Koch: Musikalisches Lexikon

Accent.

<49> So wie sich in der Sprache, besonders wenn der Redende mit Empfindung spricht, gewisse Sylben der Wörter durch einen besondern Nachdruck auszeichnen, wodurch hauptsächlich der Inhalt der Rede für den Zuhörer empfänglich wird, eben so müssen bey dem Vortrage einer Melodie, die eine bestimmte Empfindung enthält, gewisse Töne mit einer hervorstechenden Vortragsart ausgeführet werden, wenn die in derselben enthaltene Empfindung faßlich ausgedrückt werden <|> soll. Den hervorstechenden Vortrag solcher Töne, oder den besondern Nachdruck, welchen sie erhalten müssen, nennent man den Accent.

Die Art, wie der Nachdruck dieser Töne hervorgebracht wird, läßt sich eigentlich besser empfinden, als beschreiben; genau genommen bestehet sie theils in einem gewissen nachdrücklichen Verweilen, wobey es scheinet, als halte man sich bey einem solchen accentuierten Tone einen Moment länger auf, als es seine bestimmte Zeitdauer erfordert.

Man pflegt in der Musik, eben so wie in der Rede, den Accent einzutheilen, in den grammatischen, oratorischen und pathetischen.

Unter dem grammatischen Accente verstehet man den fast unmerklichen Nachdruck, welchen im Vortrage einer Melodie

  1. alle auf die gute Zeit des Taktes fallenden Noten erhalten müssen, wie z.B. in dem folgenden Satze die mit * bezeichneten Noten:
    Notenbeispiel Sp. 49/50, Nr. 1
    Den grammatischen Accent erhalten
  2. auch diejenigen Noten, die bey der Zergliederung der Hauptnoten des Taktes in Noten von geringerem Werte, auf den Anschlag eines <|> Takttheils oder Taktgliedes fallen, oder in der eigentlichen Sprache der Kunst, diejenigen Noten, die in dem Anschlage [FN: Siehe Anschlag] stehen; z.B.
    Notenbeispiel Sp. 49/50, Nr. 2
    oder
    Notenbeispiel Sp. 49/50, Nr. 3
    Bey solchen durch die Zergliederung der Hauptnoten des Taktes zum Vorscheine kommenden Figuren <|> von gleichartigen Noten macht jedoch der Grad der Geschwindigkeit der Taktbewegung, das Abstoßen oder <51> Zusammenschleifen der Noten, u.s.w. oft einen Unterschied; so werden z.E. die Noten dieses ersten Beyspiels, wenn sie im Adagio vorkommen, <|> und wenn derselben zwey und zwey zusammengeschleift werden, in Rücksicht auf den grammatischen Accent, so vorgetragen:
    Notenbeispiel Sp. 51/52, Nr. 1
    Dieser grammatische Accent darf bey dem Vortrage der Passagen von gleichartigen Noten in munterer Bewegung, durchaus nicht so hervorstechend seyn, wie der oratorische oder der pathetische Accent, von welchen in der Folge gehandelt wird; sondern er muß so fein modificirt seyn, daß er kaum merklich wird, sonst entstehet eine abgeschmackte und hinkende Vortragsart, die sich eben so ausnimmt, als wenn man z.B. bey dem Vorlesen eines Gedichtes die Verse scandirt.

In Singstücken ist es ein Haupterfordernis, daß die grammatischen Accente des Textes, oder die langen Sylben desselben, auf die grammatischen Accente der Melodie, das ist, auf gute Taktzeiten fallen müssen; denn unser Gefühl wird beleidigt, sobald eine lange Sylbe des Textes nicht auf den Anschlag, sondern auf den Nachschlag einer guten Taktzeit fällt.

Unter den oratorischen und pathetischen Accenten, von welchen die letzten verstärkte Grade der ersten <|> sind, verstehet man nun eigentlich diejenigen, von welchen zu Anfange dieses Artikels die Rede ist, und durch welche die Melodie den ihr eigenthümlichen Ausdruck erhält. Es sind gleichsam die höchsten Lichter und Drucker des Tongemäldes, und durch sie wird beym Vortrage der Melodie dem Ohre der bestimmtere Sinn desselben faßlich gemacht. Sie unterscheiden sich von den grammatischen Accenten nicht nur durch den oben beschriebenen mehr hervorstechenden Vortrag, sondern auch dadurch, daß sie auf keinen bestimmten Theil des Taktes eingeschränkt, sondern blos in dem Ideale des Tonsetzers, welches er durch Noten dargestellt hat, enthalten sind, in welchem sie der Geschmack des Ausführers entdecken muß. Von dieser Beschaffenheit sind die Accente, mit welchen in folgenden Sätzen die mit * bezeichneten Noten vorgetragen werden müssen, wenn die Melodie nicht so lahm und unbedeutend klingen soll, wie das von manchem Schulknaben in einem Tone hergebetete Pensum seines Catechismus.

Notenbeispiel Sp. 51/52, Nr. 2

So vollständig und bestimmt unsere Tonschrift in Ansehung der Darstellung <|> der Töne in Rücksicht auf Höhe und Zeitdauer ist, so kann dennoch <53> genau genommen weiter nichts, als gleichsam der tode Buchstabe eines Tonstückes dadurch vorgestellet werden. Dasjenige, wodurch der Geist desselben beym Vortrage fühlbar gemacht werden muß, wird sich niemals durch Zeichen völlig darstellen lassen. Bey alledem aber ist es dennoch eine ausgemachte Sache, daß die lebendige Darstellung der Melodie eines Tonstückes größtentheils auf dem richtigen Vortrage der oratorischen und pathetischen Accente beruhet. Weil es nun hierbey hauptsächlich auf das Herausfinden derjenigen Töne der Melodie ankömmt, die dem Ideale des Tonsetzers zu Folge einen solchen Accent erhalten müssen, so wär es allerdings zu wünschen, daß man ein Zeichen einführte, mit welchem die Noten, die einen solchen Accent erhalten sollen, bezeichnet werden könnten. Es müßte hierzu aber ein solches Zeichen gewählt werden, welches man nicht leicht mit einem andern schon üblichen verwechseln könnte. <|> Verschiedene Tonsetzer bezeichnen dergleichen Noten, die mit Accente vorgetragen werden sollen, mit dem Worte rinforzato (verstärkt), welches abgekürzt mit rf. angezeigt wird. Wer sollte aber nicht bemerkt haben, daß die damit bezeichneten Töne mehrentheils zu stark und zu grell accentuirt werden, und daß man des in rf. abgekürzte rinforzato mit dem in sf. abgekürzten Worte sforzato (aufgesprengt) verwechselt, dessen sich der Tonsetzer nur in solchen Fällen bedient, wo der Ton mit Heftigkeit, aber nicht auf die mildere Art accentuirt werden soll, von welcher hier eigentlich die Rede ist. Diesem Mißverständnisse entgehen diejenigen Tonsetzer, die sich bey der Bezeichnung der wenigen Accente, die sie hin und wieder anzudeuten pflegen, des in dem folgenden Beyspiele gebrauchten Zeichens bedienen, womit man, wenn es in längerer Form gebraucht wird, das decrescendo bezeichnet; z.E.

Notenbeispiel Sp. 53/54

Noch einfacher ist dasjenige Zeichen, dessen Reichardt in dem kleinen Werke: Ueber die Pflichten des Ripien-Violonisten auf der ersten Seite gedenkt, welches aus einem kleinen über die Note gesetzten Striche stehet, der von der linken zur rechten Seite herabgezogen ist, spitz anhebt, und unten stärker wird.

Es mangelt demnach nicht sowohl an einem einfachen Zeichen, dessen man sich bedienen könnte, die Noten zu bezeichnen, die einen oratorischen oder pathetischen Accent bey dem Vortrage erhalten sollen, als vielmehr an der Bereitwilligkeit der Tonsetzer, alle diejenigen Noten, die ihrem Ideale zu Folge hervorstechend oder accentuirt vorgetragen <|> werden müssen, mit einem Zeichen zu bemerken.

zurück
nach oben