Koch: Musikalisches Lexikon

Cäsur,

<276> der Schnitt. Einige der neuern Theoristen bezeichnen mit diesem Worte die kleinste Gattung der melodischen Glieder der Periode,1 die von den ältern Tonlehrern, die sich insbesondere über die Theorie der Melodie verbreitet haben, mit dem gleich bedeutenden deutschen Worte Einschnitt benannt werden. Aus dem Inhalte der Artikel Absatz und Einschnitt wird man sich erklären können, warum das Bezeichnungswort der kleinern Glieder der Periode nicht sowohl die rhythmische, sondern vorzüglich die interpunktische und logische Beschaffenheit derselben bezeichnen muß. Es wär daher allerdings besser gewesen, wenn die neuern Theoristen das von den ältern schon allgemein eingeführte deutsche Kunstwort Einschnitt, zu Bezeichnung der kleinsten melodischen Glieder ebenfalls beybehalten <277> hätten, weil das lateinische Wort Cäsur schon eine andere, und zwar bloß rhythmische Bedeutung hatte, die es seinem Sprachgebrauche zu Folge auch bis jetzt noch behauptet.

Schon längst bezeichnete das Wort Cäsur einen blos rhythmischen Ruhepunkt, insbesondere aber den <|> rhythmischen Endpunkt sowohl der größern als kleinern melodischen Theile, denn man pflegte z.B. vor dreyßig Jahren eben so wohl, wie jetzt noch, zu sagen, die Cäsur der Cadenzen müsse auf die gute Taktzeit fallen; oder wenn dieser Satz

Notenbeispiel Sp. 277/278, Nr. 1

<|> auf folgende Art geschrieben wird,

Notenbeispiel Sp. 277/278, Nr. 2

<|> würde man ehedem, wie es noch jetzt geschieht, gesagt haben: er ist deswegen falsch in den Takt eingekleidet, oder in dem unrechten Theile des Taktes angefangen worden, weil seine Cäsur auf den schlechten Takttheil fällt. Auch in der Poesie, aus welcher der Ausdruck Cäsur eigentlich entlehnt ist, bezeichnet er (weil die Cäsur oft mitten auf ein mehrsylbiges Wort fällt,) weder eine interpunktische noch logische Beschaffenheit des Verses, sondern bloß einen rhythmischen Ruhepunkt, nach welchem die Wiederkehr einer ähnlichen Anzahl der Füße beginnt. Alles dieses beweißt hinlänglich, daß das Wort Cäsur seinem eingeführten Sprachgebrauch zu Folge nicht bestimmt ist, eine besondere Art der melodischen Theile, sondern bloß eine rhythmische Eigenschaft aller Theile der Melodie zu bezeichnen.

Weil es nun bey der Verbindung der melodischen Glieder in dem Periodenbaue nicht bloß auf ihre rhythmische, sondern auch auf <|> ihre interpunktische und logische Beschaffenheit ankömmt, so scheint mir es richtiger zu seyn, zur Bezeichnung der kleinern melodischen Glieder das ältere, und ohnehin allgemeiner dazu angenommene Kunstwort Einschnitt beyzubehalten, und mit dem Ausdrucke Cäsur die rhythmische Eigenschaft, und insbesondere das rhythmische Ende der Tonschlüsse, Absätze und Einschnitte zu bezeichnen.

Dieses rhythmische Ende oder die Cäsur eines Gliedes der Melodie ist nicht immer zugleich die Schlußnote eines solchen melodischen Theils, und daher scheint es, als habe man den Ausdruck Cäsur aus der Poesie in die Musik übergetragen, um das rhythmische Ende eines Satzes von dem melodischen zu unterscheiden.

Einige Beyspiele werden diesen Unterschied deutlicher machen. In folgenden Sätzen fällt die Cäsur (die ich über der Cäsurnote mit einem Sternchen bezeichnen will) zugleich auf die melodische Endnote des Satzes:

Notenbeispiel Sp. 277/278, Nr. 3
Notenbeispiel Sp. 279/280, Nr. 1

<279> Ganz anders aber verhält es sich, wenn entweder die Cäsur einen <|> Ueberhang, oder einen weiblichen Ausgang bekömmt, z.B.

Notenbeispiel Sp. 279/280, Nr. 2

<|> oder

Notenbeispiel Sp. 279/280, Nr. 3

<|> oder wenn das melodische Ende sogar bis in den schlechten Takttheil <|> hinüber gezogen wird; als

Notenbeispiel Sp. 279/280, Nr. 4

<|> oder

Notenbeispiel Sp. 279/280, Nr. 5

<|> Bey diesen Sätzen überzeugt uns das Gefühl, daß das rhythmische Ende derselben auf die mit einem Sternchen bezeichneten Noten falle, ohngeachtet ihr melodisches Ende <|> erst einige Noten später erfolgt. Eine ganz andere Beschaffenheit aber hat es mit einem Satze, in welchem die Cäsur auf die schlechte Zeit des Taktes fällt, z.E.

Notenbeispiel Sp. 279/280, Nr. 6
Notenbeispiel Sp. 281/282, Nr. 1

(falsch,) [FN: Der Satz muß nemlich mit zwey Achteln vor dem Taktstriche, oder wie man zu sagen pflegt, mit zwey Achteln im Aufschlage anfangen, alsdann bekömmt es seine Richtigkeit.]

<281> Hier machen die grammatischen Accente mit den rhythmischen einen auffallenden Contrast, denn die Noten, die der Natur dieser Melodie gemäß den grammatischen Accent erhalten müssen, und die man eben deswegen in den guten Takttheil bringen muß, weil ihm der rhythmische Nachdruck eigen ist, sind in den entgegen gesetzten Takttheil gebracht, dem dieser Nachdruck oder Accent mangelt; daher muß entweder der Satz den allgemeinen Regeln des Vortrags zuwider ausgeführt, und der Accent auf die Noten im schlechten Takttheile gelegt werden, oder wenn dieses nicht geschieht, <|> und der Nachdruck auf die, hier in diesem unrichtig geschriebenen Satze, im guten Takttheile stehenden Noten gelegt wird, unser Gefühl beleidigen, und unverständlich werden. Man giebt daher die Regel, daß die Cäsuren der Tonschlüsse, Absätze und Einschnitte jederzeit auf den guten Theil des Taktes fallen müssen.

In einigen Tanzmelodien erlaubt man sich zuweilen eine Ausnahme von dieser Regel; in der Polonaise aber werden jederzeit die Cäsuren der größern und kleinern Glieder der Melodie auf die schlechte Zeit des Taktes gebracht, z.E.

Notenbeispiel Sp. 281/282, Nr. 2

<|> Die Ursachen, warum unser Gefühl, welches bey andern Arten der Tonstücke, die auch in der ungeraden Taktart gesetzt sind, bey der Verrückung der Cäsuren auf den schlechten Takttheil so leicht beleidigt wird, bey diesem Tanze keine Beleidigung empfindet, ist schwer zu erklären. Weil bey dieser Gattung der Tonstücke, wenn man sie in den Zweyvierteltakt auflöset, alle Cäsuren der melodischen Theile auf den guten Takttheil fallen, so glaubt man, daß dabey eigentlich der Zweyvierteltakt zum Grunde liege, und daß dieses die Ursache sey, warum unser Gefühl der Einrichtung derselben nicht wiederstrebt.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 275/276):

Kirnberger, in seiner Kunst des reinen Satzes, Theil II. S. 142, und mit ihm Sulzer in der Theorie der schönen Künste, in dem Artikel Einschnitt, bezeichnen ein solches melodisches Glied, welches man vorher einen Einschnitt nannte, mit dem Ausdrucke Cäsur; die größern Glieder der Melodie aber, welche den Namen Absätze führten, werden von diesen Theoristen Einschnitte genannt. Siehe den Artikel Absatz.

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