Koch: Musikalisches Lexikon

Einheit.

<517> Wenn alle einzelnen Theile eines Tonstückes unmittelbar auf den Zweck des Ganzen abzielen, zur Erreichung dieses Zweckes geschickt sind, und die Vorstellung nicht auf Nebenideen leiten, so sagt man, das Ganze habe Einheit. Nach Sulzers Erklärung ist die Einheit dasjenige, wodurch wir uns viel Dinge als Theile eines Dinges vorstellen. <518> Alle Aesthetiker stimmen darin überein, daß Einheit ein unumgängliches Erforderniß alles Produkte der schönen Künste sey. Es läßt sich die Nothwendigkeit dieser Eigenschaft der Kunstwerke auch ohne weitläuftigen Beweis schon daraus erklären, daß ein Kunstprodukt, wenn wir an demselben Vergnügen finden sollen, nur einen einzigen Totaleindruck machen dürfe; dieses kann unmöglich geschehen, wenn in dem Stoffe und dessen Bearbeitung Einheit mangelt.

Das Nothwendigste über diesen Gegenstand sowohl an und für sich selbst, als auch in Hinsicht auf diejenige nothwendige Eigenschaft der Kunstprodukte, die man Mannigfaltigkeit nennet, findet man in dem Artikel Ausführung. Es bleiben daher hier nur noch einige nöthige Bemerkungen übrig.

Die Einheit verlangt nicht allein Einheit des Stoffe, sondern auch Einheit in der Darstellung desselben. Es kann in einem Tonstücke die Gedankenfolge, oder die Verbindung der einzelnen melodischen Theile, den Regeln der Einheit vollkommen entsprechen, und dennoch dem Ganzen der nöthige Grad der Einheit mangeln; denn sobald die Art der Begleitung nicht auf das vollkommenste zu der Hauptmelodie paßt, nicht auf den Zweck des Ganzen hinwirkt, sondern die Aufmerksamkeit auf dasselbe eher zerstreuet, als hinleitet; so entstehet der nemliche Nachtheil in Rücksicht auf die Wirkung des Ganzen, als wenn die Einheit des Stoffes, oder der Hauptmelodie (in welcher der eigentliche Umriß des Tongemäldes, wenigstens in Tonstücken in der so genannten freyen Schreibart, enthalten ist,) vernachläßigt worden wäre.

Die strengste Befolgung der Regeln der Einheit scheint in den Produkten der Tonkunst, und vorzüglich bey der Instrumentalmusik, um so nothwendiger zu seyn, als in den übrigen schönen Künsten, weil die Musik weniger als die übrigen schönen Künste auf die Vorstellungskraft, sondern einzig und allein auf das Empfindungsvermögen wirkt, und weil die höhern Seelenkräfte bey jedem <519> Mißgriffe dem Ganzen nicht so leicht zu Hülfe kommen können, wie in den Werken der übrigen Künste. - Ohne Zweifel liegt auch in dem Mangel der Befolgung der Regeln der Einheit (der überhaupt in den modernen Kunstprodukten merklicher ist, als in den Werken älterer Tonsetzer) sehr oft der Grund, warum so viel Instrumentalstücke, denen man viele einzelnen sehr treffende Stellen nicht streitig machen kann, keinen Totaleindruck machen.

Viele glauben, daß die Werke derjenigen unserer modernen Tonsetzer, die ins Heiligthum der Kunst eingedrungen sind, hauptsächlich ihre Wirkung durch die einzelnen kraftvollen Stellen, die sie enthalten, hervorbringen; um sie daher so viel als möglich ist nachzuahmen, sucht man Gedanken und Sätze an einander zu reihen, die nur einzeln und für sich betrachtet schön sind. Wie kann aber ein Tonstück einige Wirkung thun, wo jeder einzelne Satz mit einem Satze aus einem andern Tonstücke eben so gut verwechselt werden könnte, wie kann es Wirkung thun, wenn nicht alle in demselben verbundene Theile unmittelbar auf einen einzigen Zweck, auf eine einzige bestimmte Empfindung hinwirken. - Die Tonstücke unserer vorzüglichsten Tonsetzer wirken unstreitig mehr durch die Einheit aller Theile des Ganzen, als durch das Hervorstechende, welches dieser oder jener einzelne Satz derselben behauptet.

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