Koch: Musikalisches Lexikon

Fermate.

<562> Ein solcher Ruhepunkt in dem Verfolge eines Tonstückes, bey welchem die Bewegung des Taktes dadurch auf einige Zeit mit Vorsatz unterbrochen wird, daß man den Ton auf einer Note viel länger aushält, oder bey einer kleinen Pause länger verweilt, als es die Dauer derselben erfordert. Das Zeichen, womit man die Note oder kleine Pause bemerkt, bey welcher auf diese Art die Taktbewegung unterbrochen werden soll, ist ein Bogen mit einem Punkte, der über die Note oder Pause gesetzt wird, z.E.

Notenbeispiel Sp. 561/562

<|> Es können verschiedene Ursachen vorhanden seyn, die den Tonsetzer veranlassen, die Taktbewegung mitten in ihrem Flusse durch eine Fermate zu hemmen, und auf eine kurze Zeit zu unterbrechen. Der <|> Ausdruck der Verwunderung oder des Erstaunens, eine Empfindung, wobey die Bewegungen des Geistes selbst einen kurzen Stillstand zu machen scheinen, oder solche Stellen, wo die vorhandene Empfindung <563> sich durch ihre völlige Ergießung erschöpft zu haben scheint, sind hinreichend, das Daseynsolcher Fermaten zu begünstigen. Ganz zuverläßig sind jedoch solche Fälle weit seltener, als die in vielen Tonstücken vorhandenen Fermaten, bey denen man oft deutlich genug bemerkt, daß sie ihr Daseyn bloß dem Zufalle zu verdanken haben.

Die Fermate wird, wie schon gesagt, entweder auf einer Note, oder auf einer Pause gemacht. Im letzten Falle ist bey der Ausführung derselben weiter nichts zu bemerken, als dass die vorhergehende Note nicht ausgehalten werden darf, sondern eben so vorgetragen werden muß, wie jede andere am Werthe ihr gleiche Note, auf welche eine Pause folgt, das heißt, sie wird nicht bis zum letzten Moment ihrer Dauer fortklingend erhalten. Die Zeit, wie lange durch die auf die Pause fallende Fermate die Taktbewegung unterbrochen werden soll, hängt von dem Geschmacke des Ausführers der Hauptstimme, oder auch von dem Anführer des Orchesters ab.1 Die Ausführer der <564> übrigen Stimmen haben dabey bloß dahin zu sehen, daß sie den nach der Fermate folgenden Satz mit der Hauptstimme völlig gleichzeitig wieder anfangen.

Stehet hingegen das Zeichen der Fermate über der Note, so wird die unabgesetzt mit stetem Tone, und wenn das Zeichen des crescendo oder decrescendo damit verbunden ist, mit wachsender oder abnehmender Stärke ausgehalten. Hierbey muß aber zugleich darauf Rücksicht genommen werden, ob zwischen der Note mit dem Zeichen der Fermate, und zwischen der darauf folgenden Note, eine Pause vorhanden ist, oder nicht. Im ersten Falle muß der ausgehaltene Ton erst völlig verschwunden seyn, ehe die folgende Note intonirt wird. Dieses muß sogar in den begleitenden Stimmen auch in dem Falle geschehen, wenn die Hauptstimme bey zwey unmittelbar nach einander folgenden Fermaten die erste an die zweyte anreihet, die begleitenden Stimmen aber zwischen beyden Fermaten eine kleine Pause haben, wie z.B. in folgendem Satze:

Notenbeispiel Sp. 563/564

<|> Ist aber zwischen der Note, über welcher das Zeichen der Fermate <|> stehet, und zwischen der folgenden Noten keine Pause vorhanden, so <565> sollte eigentlich den Grundsätzen unserer Notirungsart zu Folge auch niemals zwischen zwey solchen Noten eine Pause, oder ein gänzliches Verschwinden des ausgehaltenen <|> Tones statt finden, sondern die ausgehaltene Note sollte jederzeit mit der folgenden in Verbindung gebracht werden, wie z.B. bey diesem Satze,

Notenbeispiel Sp. 565/566, Nr. 1

<|> bey welchem die Fermate ohngefähr auf folgende Art von dem nachfolgenden <|> Satze unabgesondert vorgetragen werden muß.

Notenbeispiel Sp. 565/566, Nr. 2

<|> Die Tonsetzer sollten daher, wenn sie z.E. solche Fermate wie in dem <|> folgenden Satze

Notenbeispiel Sp. 565/566, Nr. 3

<565> nicht so vorgetragen haben wollen, daß die Septimenharmonie auf der Fermate bis zum Eintritte des Dreyklanges der Tonica fortklingen, sondern dazwischen abgesetzt werden soll, den Punkt nach der Note jederzeit in eine Pause verwandeln, oder bey solchen Fällen, wo kein Punkt statt findet, die Note mit der Fermate am Werthe verringern, damit ihr eine Pause folgen kann. Dadurch würde manchen fehlerhaften Ausführungen solcher Sätze vorgebeugt, weil sich alsdenn die Ausführer ganz genau an die Regeln halten könnten, die durch die Notirungskunst bestimmt werden.

<566> Bey dem Vortrage einer Solostimme hat man die Freyheit, die auszuhaltenden Noten der Fermate mit willkührlichen Verzierungen auszuschmücken, oder von derselben einen Uebergang zu dem folgenden Satze zu machen. In den begleitenden Stimmen hingegen muß man sich durchgehends, und also auch bey den Fermaten, aller Verzierungen und Spielmanieren enthalten, die nicht ausdrücklich in der Stimme vorgeschrieben sind.

Vor dem Hauptschlusse der Solostimmen kömmt gemeiniglich eine Fermate vor, die besonders deswegen vorhanden ist, um den Ausführern <567> derselben Gelegenheit zu geben, sich mit einer Fantasie von eigener Erfindung hören zu lassen, die man gewöhnlich eine Cadenz nennet. Hierdurch öffnet sich dem Ausführer der Solostimme ein freyes Feld, seine Geschicklichkeit in der freyen Fantasie und in der Modulation zu zeigen, besonders aber die in dem vorhergehenden Satze ausgedrückte Empfindung nach seiner eigenthümlichen oder individuellen Empfindungsart darzustellen, und zugleich Beweise von dem Grade seines Kunstgefühls zu geben. Hierdurch wagt sich aber auch der Ausführer der Solostimme auf ein Feld, welches er allerdings mit Vorsicht betreten muß, wenn er den Eindruck, den er durch den Vortrag der Solostimme gemacht hat, nicht gänzlich wieder auslöschen will. Dieses würde allerdings geschehen, wenn er die Cadenz als eine solche Zugabe betrachtet, in welcher er berechtigt zu seyn glaubt, sein tägliches Zungen- oder Fingerwerk auszukramen, welches der Tonsetzer im Satze selbst anzubringen vergessen hatte.

Besondere Regeln über die Verfertigung einer Cadenz lassen sich wohl schwerlich geben; sie muß eigentlich Ausfluß der Fülle der Empfindung seyn, in welche der Ausführer durch den vorhergehenden Vortrag versetzt worden ist. Dasjenige, was im Allgemeinen alle zweckmäßige Cadenzen verlangen, ist, daß das Tonstück, in welchem sie gemacht werden, ihren Charakter bestimmen, und daß ihr Inhalt den nächsten Bezug auf einige im Satze enthaltene Hauptgedanken haben muß.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 563/564):

Man hat darauf angetragen, daß die Tonsetzer die Zeit, wie lange sie bey dieser Gelegenheit den Stillstand der Taktbewegung verlangen, durch Pausen bezeichnen möchten. Man findet auch hin und wieder Tonstücke, in welchen es geschehen ist; bis jetzt noch scheinen es aber die wenigsten Tonsetzer für nöthig zu halten. Dieser Vorschlag würde übrigens, wenn das Stillschweigen nicht gerade einen oder zwey Takte ausmachen soll, wegen der Takteintheilung des nach der Fermate folgenden Satzes, nicht immer anwendbar seyn.

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