Koch: Musikalisches Lexikon

Gezwungen.

<671> Das Gezwungene ist dem Natürlichen entgegen gesetzt, und man verstehet darunter dasjenige, was nicht durch die der Sache angemessenen Mittel erreicht worden ist, oder wo zwischen Ursache und Wirkung kein genauer Zusammenhang statt findet.

In den Kunstwerken beleidigt das Gezwungene unser Gefühl, weil wir dabey empfinden, daß der Künstler die Wirkung derselben nicht durch natürliche, sondern gleichsam durch untergeschobene Mittel erreichen, oder unser Gefühl gleichsam hintergehen wollte.

Der Tonsetzer fällt sehr leicht in das Gezwungene, wenn er eine Empfindung ausdrücken will, von der er selbst noch nicht genug durchdrungen ist, oder wenn er in einem solchen Zustande arbeitet, in welchem <672> das Feuer der Begeisterung noch nicht genugsam aufgelodert ist, und Genie und Erfindungskraft noch nicht wirksam genug sind, sinnliche Abdrücke aller Züge dieser Empfindung hervorzubringen. In diesem Falle bleiben gemeiniglich in dem zu bildenden Ganzen noch gewisse Lücken; wartet der Tonsetzer nun den glücklichen Zeitpunkt nicht ab, in welchem ihm sein Genie zur Ausfüllung derselben behülflich ist, will er die Vollendung des ganzen Tongemäldes gleichsam erzwingen, so füllt er diese Lücken, um den Zusammenhang des Ganzen zu erhalten, mit solchen Gedanken, die gemeiniglich das Gepräge des Gezwungenen tragen, weil man fühlt, daß sie mit den übrigen nicht aus einerley Quelle geflossen sind, und die Stellen, die sie einnehmen, nicht zweckmäßig genug ausfüllen können.

Um also nicht in den Fehler des Gezwungenen zu fallen, darf der Tonsetzer nicht eher arbeiten, als bis er des Beystandes seiner Muse, und der Wirksamkeit seines Genies gewiß ist; denn nur in dieser Lage ist die Fülle der Vorstellungen so beschaffen, daß er die Theile eines Tongemäldes ohne Zwang zu einem Ganzen vereinigen kann.

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