Koch: Musikalisches Lexikon

Leidenschaft,

<894> Affect. "Jede lebhaftere Wirksamkeit der Seele, die eben ihrer Lebhaftigkeit wegen mit einem merklichen Grade von Vergnügen oder Mißvergnügen verbunden ist."

Der Ausdruck leidenschaftlicher Empfindungen ist der Hauptgegenstand der Tonkunst, folglich kann hier eine kurze Klassifikation derselben, nebst einigen Bemerkungen, wie sich die Kunst bey dem Ausdrucke derselben verhält, nicht am unrechten Orte stehen.

"Die Lehre von den Affecten" (sagt ein bekannter Schriftsteller) [FN: ? Löbel, Kurzgefaßtes Handwörterbuch über die schönen Künste, von einer Gesellschaft von Gelehrten] "scheint bey dem ersten Anblicke so vielumfassend und verwickelt, die Menge der einzelnen leidenschaftlichen Seelenbewegungen so groß und unübersetzbar, daß diejenigen, welche bey dem ersten Gedanken stehen zu bleiben gewohnt sind, sich hier in einer endlosen Gegend zu befinden glauben, welche zu ermessen und zu bezeichnen die Kräfte, wo nicht der menschlichen Natur, doch gewiß die ihrigen, weit übersteige. Schon die erste vorläufige Idee, welche sich die meisten von dem Studium der Affecten machen, trägt also dazu bey, den allgemeinen Irrthum von der Unzulänglichkeit des Verstandes und der Untrüglichkeit des Gefühls, als der einzigen sichern Führerin, in Rücksicht auf diesen Punkt bilden zu helfen. Allein bey einem fortgesetzten Nachdenken wird man gar bald gewahr, daß der großen Mannigfaltigkeit der lebhaften Gemüthsbewegungen ungeachtet, sich dennoch eine kleine Anzahl einfacher Affecten bestimmen und beschreiben lasse, von denen die meisten vorkommenden Leidenschaften bloße Mischungen sind, und auf welche die Theorie der gesammten Leidenschaften, als auf <895> einen sichern Grund gebauet werden kann."

"Von diesen einfachen Affecten giebt Herr Engel folgende sehr faßliche Uebersicht. Die Wirksamkeit der Seele bey dem Affect bestehet entweder im Anschauen dessen, was ist, oder im Streben nach dem, was man möchte. Die letztere Art der Wirksamkeit wird Begierde genannt."

"Die Affecten, welche im Anschauen bestehen, sind: die Bewunderung und das Lachen, für den Verstand; die Freude, das ruhige Selbstgefallen, die moralische Sympathie, die Verehrung, die Liebe, alles angenehme - die Verachtung, die Schaam, (deren Ursache bloß Herabwürdigung im Urtheil ist, statt daß die folgenden ein wirkliches Uebel zum Gegenstande haben) die Furcht, das Aergerniß oder der Unwille über eine empfangene Beleidigung, der Verdruß, welcher, sobald man ein moralisches Wesen als Ursache seines unglücklichen Zustandes erkennt, Haß wird, (welche drey Affecten im Grunde stumme, vielleicht auch nur dunkel empfundene Begierden, entweder anzugreifen, oder sich loszureißen sind) die Schwermuth, das Leiden - insgesammt unangenehme Leidenschaften des Herzens."

"Was die zweyte Art der Affecten, die eigentlich so genannte Begierde betrifft, so ist nach dem Vorigen, der Abscheu, welchen man jener gewöhnlich entgegensetzt, schon in derselben begriffen; auch er strebt aus der jetzigen Lage in eine bessere. Wir haben demnach eine zwiefache Art der Begierden zu unterscheiden: die eine sucht Vereinigung mit einem Gute; die andere Trennung von einem Uebel. Diese letztere ist wieder zwiefach: denn wir suchen entweder uns oder das Uebel zu entfernen. Diesem zu Folge ist es am bequemsten, sogleich dreyerley Arten von Begierden festzusetzen: die Genußbegierde, welcher man, nach ihren verschiedenen Gegenständen, verschiedene Namen geben kann, die Rettungsbegierde, welche sich bey der Furcht und dem Schrecken <896> äußert, ohne jedoch als der einzige Bestandtheil dieser Leidenschaft angesehen werden zu können, und die Begierde nach Wegräumung, welche sich stets unter der Gestalt des Zorns zeigt. Dem Sprachgebrauche zu Folge scheinen zwar noch viele andere Affecten unter die einfachen zu gehören, welche dieses jedoch im Grunde bloß dem Namen nach sind, da sie bloß aus Mischungen von jenen bestehen. Hierher gehören die Affecten der Hoffnung, des Mitleids, des Argwohns, u.s.w. - Bey dem Ausdrucke dieser und der übrigen zusammengesetzten Leidenschaften kömmt es bloß darauf an, daß man, nach dem man sich des wahren Ausdrucks der einfachen bemeistert hat, nicht bloß die Zusammensetzung überhaupt, sondern die Art derselben in dem besondern Falle im Auge habe, um genau zu bestimmen, welcher Affect der herrschende, welcher der untergeordnete sey, und in welchem Grade dieses Verhältniß zwischen beyden statt finde."

Richten wir unsere Aufmerksamkeit noch kürzlich auf die Mittel, wodurch das Material der Tonkunst, oder die in einen gewissen Zusammenhang gebrachten Töne, zum Ausdrucke so verschiedener Leidenschaften fähig werden, so hat diese Verschiedenheit des Ausdruckes ihren Grund in der langsamern oder geschwindern Bewegung der Töne überhaupt, oder des Taktes insbesondere; in dem Gebrauche des höhern oder tiefern Theils des Umfanges einer Stimme oder eines Instrumentes; in dem mehr stufenweisen oder mehr sprungweisen, mehr zusammengezogenen oder mehr abgestoßenen Gebrauche der Töne; in der Anwendung leichter und fließender, oder harter und schwer zu intonirender Intervallen; in dem Gebrauche mehr oder weniger Accente sowohl in den guten als schlimmen Zeiten des Taktes; in der Anwendung mehr gleichartiger oder mehr vermischter Notenfiguren; in dem mehr oder minder Fühlbaren des Rhythmus; in der Verbindung mehr natürlich auf einander folgender oder mehr fremdartiger, mehr consonirender oder mehr <897> dissonirender Akkorde u.d.gl. So verlangt z.B. der Ausdruck trauriger Empfindungen eine langsame Bewegung, mehr tiefe als hohe, mehr zusammengeschleifte als abgestoßene Töne, mit unter schwerfällige und harte melodische Fortschreitungen, viel Dissonanzen in der Harmonie und im Vortrage starke Accentuirung derselben, einen wenig hervorstechenden oder fühlbaren Rhythmus u.s.w. - Der Ausdruck der freudigen Affecten hingegen zeichnet sich durch muntere Bewegung, durch mehr hohe als tiefe, mehr abgestoßene als geschleifte, und durch mehr springende als stufenweis auf einander folgende Töne aus; der Rhythmus ist faßlich und verlangt die Vermeidung sehr ungleichartiger Theile, er ist aber nicht stark fühlbar; die Töne verlangen eine mäßige Accentuirung, und dieser Art der Affecten sind schwerfällige Fortschreitungen der Melodie und zu häufiger Gebrauch der Dissonanzen, zuwider. - Der Ausdruck des Erhabenen verlangt eine mäßig langsame Bewegung, einen sehr hervorstechenden und stark markirten Rhythmus, und mehr gestoßene, als zusammengeschleifte Töne; dieser Affect verträgt sich sehr gut bey langsamen Noten mit weiten, aber consonirenden Intervallensprüngen, und verlangt eine volle und kräftige, aber keinesweges mit Dissonanzen überladene Harmonie, und äußerst kräftige Accentuirung der Töne; daher auch in Tonstücken von diesem Charakter die öftern punktirten Noten in mäßiger Bewegung. - Die angenehmen Leidenschaften lieben eine sehr mäßig geschwinde Bewegung, mehr sanft zusammengeschleifte als gestoßene, gemeiniglich auch mehr stufenweise als springende Noten, mit wenig scharfen Accenten im Allgemeinen betrachtet, aber mit starker und anwachsender Heraushebung der Vorschläge und anderer zu accentuirenden Noten; der Rhythmus darf dabey weder zu merklich herausgehoben, noch zu sehr in Schatten gestellt seyn, so wie die Harmonie <898> aus sanft an einander gereiheten Akkorden, ohne Beymischung zu vieler Dissonanzen, bestehen muß.

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