Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 1

Erster Theil. Die Idee im Allgemeinen.

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Erstes Kapitel. Bedeutung und Eigenthümlichkeit des Pianofortes.

[Die Zwischenüberschriften des Kapitels wurden der Übersichtlichkeit halber hinzugefügt. Sie sind im Originaltext nicht vorhanden.]

Klavierinstrumente und Klavierton

<1> Der künstlerische Werth eines Instruments und die Grenzen, innerhalb deren dasselbe dem musikalischen Bedürfniß genügen kann, hängen ab vom Klang und von der Behandlungsweise. Die ganze Welt des musikalisch Schönen erschöpfend darzustellen, ist weder dem Gesange, noch irgend einem Einzelinstrument verliehen. Zwar ist der erstere der Urquell alles musikalischen Denkens und Empfindens in dem Grade, daß auch die Instrumentalmusik wesentlich auf ihm beruht. Doch würde sich die künstlerische Phantasie, wenn sie auf andere Darstellungsmittel als die menschliche Stimme, verzichten sollte, beengt fühlen. Sie macht an Umfang, Kraft, Geläufigkeit größere Ansprüche, als der Gesang befriedigen kann. Vor allem verlangt sie mehr Farbenreichthum.

Somit ist es eine doppelte Nothwendigkeit, welche die Grenzen der Tonkunst über das vokale Gebiet hinaus erweitert. Erstens sollen die Instrumente ersetzen, was die Stimme an Ausdehnung der Scala, Fülle und Passagenreichthum vermissen lässt. Zweitens soll jedes seine klangliche Individualität in seiner Besonderheit geltend machen.

<2> Diese letztere eröffnet nun zwar eine Perspective auf eine große Reihe von Einzelschönheiten, die im Gesang höchstens im Keim vorhanden sind. Suchen wir jedoch nach einem Organ, welches der nach musikalischem Ausdruck ringenden Seele durch Klang und Technik, von fremder Unterstützung abgesehen, möglichst allseitug entgegenkommt, so finden wird zunächst die Blasinstrumente im entschiedenen Nachtheil gegen die Stimme. Ihre Tonfarbe ist nach einer bestimmten Richtung des Ausdrucks hin fixirt; zudem sind sie durchaus homophon. Dagegen sind die Streichinstrumente an klanglicher Nachgiebigkeit dem Gesang fast ebenbürtig; an Scalenumfang und Coloratur sind sie ihm sogar überlegen. Doch läßt ihre Behandlungsweise der Vielstimmigkeit so wenig Spielraum, daß höchstens die Geige, und selbst diese nur in beschränktestem Maße, als absolutes Soloinstrument auftreten darf.

Nur die Tasteninstrumente, Orgel und Klavier, sind berufen, ohne fremde Unterstützung eine abgeschlossene Kunstleistung zu geben. Von diesen wiederum ist es das letztere, welches dem künstlerischen Bedürfniß zumeist genügt. Denn die Bestimmung der Orgel für den Gottesdienst drückt ihrer ganzen Literatur den Stempel religiöser Weihe auf, so daß in ihr nur eine Seite des Empfindungslebens ausgebeutet wird. Auch findet die Phantasie an der schwerfälligen Nüancierung des Orgeltons nicht die volle Befriedigung. Das Klavier gestattet wenigstens in der Tonfolge ein Schwellen und Abnehmen. Es ist trotz der sonstigen Aermlichkeit seines Klanges der Orgel insofern überlegen. Auch liegt zu einer Fesselung der Klavierliteratur an eine bestimmte Stilgattung nicht der mindeste Grund vor.

Seine kosmopolitische Verbreitung verdankt das Klavier in erster Linie der bequemen Behandlungsweise seines Mechanismus. Die Handlichkeit der Tastatur ermöglicht dem Spieler, der Melodie gleichzeitig die harmonische Basis zu verleihen und ein polyphones <3> Stimmennetz ohne Mitwirkung durchzuführen. Somit liefert sie die Grundbedingungen, auf welche hin der Künstler sich seiner Kraft ohne irgend welche Einschränkung seiner Individualität entäußern kann. Die subjective Freiheit - und grade diese ist der Musik, als der Kunst des Gefühls, am unentbehrlichsten - geht z. B. im Orchester, welches sonst an Vielseitigkeit und Intensität der Ausdrucksmittel dem Pianoforte unvergleichlich überlegen ist, völlig verloren;strenggenommen ist sie schon im Ensemble zweier Spieler gefährdet.

So war es natürlich, daß das Klavier das Organ wurde, welches die eigentliche musikalische Umgangssprache repäsentirt. Es war das Lieblingsinstrument der Komponisten schon zu einer Zeit, als sein Ton noch völlig unentwickelt war, und man die unerquickliche Wahl hatte zwischen dem schrillen, nüancierungsunfähigen Flügel und dem nachgiebigeren aber klanglosen Clavichord. Daß Couperin, Scarlatti für Klavier schrieben, befremdet nicht. Ihre Compositionen passen sich nicht nur dem Mechanismus, sondern auch der Tonfarbe der ihnen zu Gebote stehenden Instrumente an. Aber selbst Bach, Händel verschmähten sie nicht; mochte durch dieselben auch der Kraft und der gesanglichen Eindringlichkeit nicht genügt werden, so wirkte doch die Größe des Gedankens wirkte selbst in diesem Miniaturbilde. Die Vortheile der Handlichkeit des Klaviers überwogen die Bedenken gegen den Klang. Jahrhundertlange Bemühungen der Instrumentenbaukunst, haben nun freilich den Ton des Pianofortes zu der Vollkommenheit herangebildet, die ihm irgend innewohnen kann. Aber der prinzipielle Uebelstand seiner Entstehung durch den Schlag versperrt ihm den Weg zu derjenigen Ausgiebigkeit, welche der menschlichen Seele Bedürfniß ist, wenn sie ihre Empfindungen in Tönen aussprechen will.

Der einmal angegebne Ton hallt zwar genügend nach, aber dieses Nachhallen ist schwach im Verhältniß zum Klang im Moment des Anschlags. Die Möglichkeit, ihn nachträglich schwellen zu lassen, <4> fehlt. Eine gewisse Trockenheit ist dem Klavierton somit im Vergleich zu Streich- und Blasinstrumenten eigen. Während diese mehr zu einer üppigen, sinnlichen Fülle neigen, behält der Klavierklang etwas Abstraktes.

Aber eben dieses Abstrakte hat auch wieder seine Vortheile, wenn es sich um unbedingte Verwendbarkeit des Tones für jede auszudrückende Stimmung handelt, und der Klang sich hierin der Behandlungsweise des Mechanismus ebenbürtig zeigen soll. Je ausgesprochener die Individualität eines Organs sich einer bestimmten Gefühlsrichtung zuneigt, um so exclusiver wird sie sich gegen andere Seiten des Ausdrucks verhalten. So ist die Trompete einseitig in ihrer Kraft, die Flöte in ihrer Süßigkeit. Der Wirkungskreis eines Instruments wird in dem Maße beschränkt, als es eine solche, im Gesange keimartig enthaltene klangliche Idee zu bestimmterer Ausführung in Angriff nimmt.

Der Klavierton ist so gut wie frei von einer bestimmten Individualität. Wenn er es nicht absolut ist, so liegt dies daran, daß seine Entstehung durch den Schlag des Hammers sich doch immerhin in einigen, unten näher zu besprechenden klanglichen Eigenthümlichkeiten geltend macht. Mit dem Gesang hat er nichts gemein, als das arithmetische Verhältniß der Tonhöhe. Zu einer besondern Stimmung neigt er kaum hin, eben deshalb ist ihm auch eine jede zugänglich. Der Klavierton ist somit objectiv-neutral. Zwar fehlt ihm der Schmelz der Flöte, doch ist er zu zart, als daß ein für diese bestimmter Gedanke durch Uebertragung auf das Klavier litte. Er hat nicht die Kraft der Trompete, doch genügt sein Volumen unter Voraussetzung voller Harmonien jedem Anspruch. Die Biegsamkeit der menschlichen Stimme fehlt ihm durchaus; doch gibt ihm eine geschickte Behandlung hinreichende Fülle und Weichheit, um selbst eine Gesangspartie mit Glück zu reproduciren.

Ueberhaupt ist nicht zu vergessen, daß der an sich scheinbar <5> völlig gleichartige Klavierton durch geeignete Schreibweise und geeigneten Anschlag der verschiedensten Effecte fähig wird. Je nach Bedürniß ist er grell oder milde, hart oder weich. Grade die ungefähre Mitte, die er zwischen den einzelnen Klang- und Stimmungsfarben hält, macht ihn zu jeder Ausdrucksart tauglich. Man kann fast sagen, daß das Orchester durch Aufbietung aller klanglichen Individualitäten jedem Gefühlsmoment gerecht wird, während das Klavier durch Ausschliessung derselben das Gleiche erreicht.

Aus dem Gesagten folgt nun, daß der Ton unsres Instruments den für dasselbe bestimmten Werken völlig freie Wahl des Styls lässt. Jede Kompositionsgattung, jede Gefühlsrichtung ist würdig in der Klavierliteratur vertreten. Die mechanischen Vorbedingungen kommen, wie wir sahen, dieser Allseitigkeit, auf's beste zu statten. Somit ist es natürlich, daß auch Orchesterwerke u. dgl. mit Glück auf das Klavier übertragen werden. Geht dabei auch die ursprüngliche Farbenpracht verloren, so haben doch solche Arrangements für den Kunstfreund etwa dieselbe Berechtigung wie die Photographie eines Gemäldes. Um die Musik populär zu machen, sind sie unentbehrlich. Absoluten Werth haben sie freilich nur in den Händen eines Spielers, der gegenüber der wechselseitigen Abhängigkeit der Mitglieder eines Ensembles den geistigen Vorzug einer freien Subjectivität zu benutzen versteht.

Es ist schon oben angedeutet worden, daß die Farblosigkeit des Klaviertons doch eigentlich nur eine relative ist. Im Vergleich zu dem üppigen Wohlklang der Streich- und Blasinstrumente ist sie in der That vorhanden. Andrerseits aber ist es natürlich, daß der Klang von seiner Entstehung durch den Schlag [Anschlag] ebenfalls einen gewissen Typus erhält. Zwar versucht die Instrumentenbaukunst, durch die Art der Hämmerbefilzung diesen Charakter möglichst in den Hintergrund zu drängen, um dem Ton eben jene oben besprochene allseitige Ausdrucksfähigkeit zu verleihen. Doch ist seine Neutralität <6> immerhin nicht groß genug, um nicht einzelne Klang- und Stimmungsnüancen zu bevorzugen.

Die Grazie ist so recht eigentlich ein Attribut des Klaviertons. Sie gehört ihm deshalb, weil er an Fülle zwar dem musikalischen Bedürfniß genügt, ohne indeß seine Stofflichkeit in dem Sinne fühlbar zu machen, wie es die Instrumente mit continuirlich fortsingendem Tone thun. Der zierlich aufhüpfende Klang gesellt sich jeder Anschlagsgattung, von der mächtigsten Wucht zum feinsten Piano, vom vollsten Gesangston zum trockensten Staccato. Am schönsten aber kommt er zur Geltung im perlenden Passagenspiel. Dieses letztere ist der Hauptreiz des Pianofortes, wodurch es jedem andern Instrument überlegen ist. Aber auch in der großartigen Wucht mächtig dahinströmender Klangesfluth, in der pomphaften Pracht vollgriffigerHarmonien weicht es höchstens dem Orchester und der Orgel.

Ferner begünstigt die Kürze des Klaviertons mehr den charakteristischen als den getragenen, empfindungsvollen Ausdruck. In der Wiedergabe markirter Rhythmik, scharfer Accentuation, greller Heftigkeit ist das Klavier besser am Platze als in der Darstellung gesanglicher Eindringlichkeit. Dieses setzt schon ein viel verfeinertes Anschlagsgefühl voraus, denn der Mechanismus des Instruments befördert sie nicht, ohne sie indeß auszuschließen.

Die Nothwendigkeit präziser Rhythmik durchdringt das ganze klaviermässige Denken. Die Kürze des Tons begünstigt sie. Die Wechselbeziehung beider Hände macht sie dem Pianisten leichter erreichbar. Dazu kommt, daß de ganze Klaviervortrag mindestens eben so sehr auf dem Accent, als auf continuirlichen Kraftabstufungen beruht. Vor allem ist folgendes zu ugiren: Je mehr der Inhalt einer Kunst verschwimmt, um so mehr wird die Form dominiren müssen. Die Instrumentalmusik hat wenig positiven Inhalt. Ihre Beziehungen zur objectiven Welt bleiben unbestimmt. <7> Die Empfindungen, die er schildert, sind, strenggenommen, gegnstnadslos. Die Architectonik der Form ist ihr desto nothwendiger. Das erste musikalische Formprinzip ist nun aber der Tact. Der continuirliche, in sich nüancenfähige Ton verhält sich zu ihm als inhaltliches Moment; denn er ist Symbol des Gefühls. Der kurze Klavierton ist dem Gesangs- oder Geigenton gegenüber inhaltsarm. Er bedarf also mehr der strengen Tactform. Die Praxis bestätigt das Gesagte. Der Sänger macht den Rhythmus oft illusorisch. Inhaltlichkeit des Textes und Qualität des Tones gestatten ihm dies Hinausgehn über die Form. Der Geiger muß hierin schon mehr Maß halten. Doch kann er, wenn ihm auch das Wort fehlt, zu viel Gefühlsinhalt in den Einzelton legen, um nicht öfter zu zögern und zu eilen, als der Pianist. Letzterer bedarf der formellen Bestimmtheit am meisten, da für ihn inhaltliche Momente im Einzelton nicht erreichbar sind, sondern nur in der Tonverbindung liegen.

So gut wie wir im Klavierton trotz seiner zunächst hervorspringenden Neutralität doch eine Vorliebe für gewisse Ausdrucksfarben entdeckten, so haben wir jetzt noch zu besprechen, in wiefern der Mechanismus des Pianofortes und der Bau seiner Tastatur gewisse Schreibweisen begünstigen, trotzdem sie an keine bestimmte gebunden sind. Die ältesten Versuche, für Klavier zu schreiben, lehnen sich an die realen Stimmen an. Sodann tritt das dem Instrument mehr zusagende Prinzip der Zweistimmigkeit auf. Endlich entwickelt sich die Passage, die in der Folge zu einer Vielseitigkeit ausgebildet wird, derengleichen kein andres Instrument auch nur annähernd aufweist.

Für das eigentlich Klaviermäßige ist charakteristisch die Brillanz. Sowohl der sinnliche Reiz derselben, als der Werth der persönlichen Geschicklichkeit haben grade für dieses Gebiet eien solche Reihe bedeutender Erscheinungen in's Leben gerufen, daß das Pianoforte <8> überhaupt lange Zeit nur der Thummelplatz der Effekthascherei war. Die neueste Zeit erst nähert sich wieder dem vernünftigen Standpunkt, die Errungenschaften der Virtuosenzeit der künstlerischen Idee unterzuordnen.

Zu allen Zeiten bestand zwischen der Kunst des Instrumentenbaues und dem Klaviersatz und -spiel ein enges Band der Verwandtschaft. Der dünne Ton der alten französischen und italienischen Flügel erzeugte die Agréments, die dem Ton dadurch mehr Nachdruck gaben, daß sie ihn in Gestalt eines Schnörkels wiederholten. Gleichzeitig entwickelt sich die Passage; denn ihre Existenzbedingungen liegen nicht im Klang des Instruments, sondern im Bau der Tastatur. Die Zeit der Wiener Flügel bildete ein vielgliedriges Figurenwesen aus, welches durch perlende Zierlichkeit ergötzte, aber einen mehr kleinlichen als bedeutenden Eindruck hinterließ. Der Massenwirkung der Töne entsprachen weder Mechanismus noch Klang. Die Hand als Anschlagsmasse war zu schwer, man spielte nur mit Knöchel und Fingerspitze. - Eine neue Aera des Klavierspiels begründet die Einführung der englischen Mechanik. Der größeren Tonfülle, die freilich auch das leiseste Piano nicht ausschliesst, geht eine schwerere Spielart parallel. Hand- und Ellbogengelenk treten in die Technik ein. Klaviersatz und -spiel dehnen sich in's Große. Eine orchestrale Vollgriffigkeit erhebt das Instrument zu imposantem Ton. Einem gesangstreuen Melodiespiel kommt der neue Klangcharakter besonders zu statten. Die Brillanz des heutigen Klavierspiels beruht gleichermaßen auf harmonischer Fülle als auf bunt gemischtem Figurenwesen; und wie wir oben gesehen haben, sidn diese beiden vom Bau der Tastatur begünstigten technischen Spezialitäten des Pianofortes auch gerade diejenigen, denen der Klang des Instruments zumeist entgegenkommt. ---

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Tonfarbe und Ausdruck

Nachdem wir im Vorstehenden versucht haben, die Grenzen zu markiren, innerhalb deren das Klavier dem musikalischen Bedürfniß <9> Anregung oder doch wenigstens Genügen bietet, bleibt noch übrig, einen Umstand in's Auge zu fassen, der es zum wichtigsten aller Instrumente macht, nämlich den, daß es in der That das hervorragendste künstlerische Erziehungsmittel ist. Wir sehen uns veranlaßt, bei Besprechung der Eigenthümlichkeiten des Klaviervortrags einiges vorwegzuhnehmen, was über die Grenzen der eigentlichen Pädagogik hinausgeht und auch in der Vortragslehre des zweiten Theils hätte behandelt werden können.

Zuerst heben wir die für den Klavierschüler wichtigen Punkte hervor, die aus der Idee der Tastatur unmittelbar folgen, daß er nämlich erstens nicht bloß melodisch, sondern auch harmonisch und polyphon denken lernt, daß zweitens die Töne rein und fertig vorliegen. Ueber die Begünstigung einer vorzugsweise exacten Rhythmik im Klavierspiel ist schon oben gesprochen worden, und fügen wir noch hinzu, daß die rhythmischen Bildungen durch die Wechselbeziehung beider Hände sich hier mannigfaltiger gestalten als bei irgend einem andern Instrument. Auch die Orgel wetteifert hierin nicht mit dem Pianoforte. Ihr Klangcharakter ist zu ernst und schwer, um sich mitden knappen Gliederungen zu vertragen, die dem Pianisten alltäglich sind.

Aber auch die Tonfarbe kommt dem Klavier, als dem musikalischen Bildungsmittel zu statten; seine relative Trockenheit läßt die reflectirende Seite des Vortrags gegen die empfindende vorwalten. Wie nämlich die objective Welt das Material der bildenden Kunst, die Geschichte das Material des Drama's liefert, so ist das Seelenleben der Stoff der Tonkunst. Der continuirliche, schwellungsfähige, innerhalb der Zeit dahinfließende Ton correspondirt mit dem Gefühl innig genug, um in der Musik dessen Symbol zu werden. Das Klavier leistet aber auf die Continuität des Tones Verzicht. Während der Sänger sich mit ganzer Seele dem Einzelton hingeben und in der sinnlichen Lebenswärme desselben den überquellenden Strom <10> der Empfindung darstellen mag, bleibt dem Klavierspieler dabei nur ein trotloses Nichtgenügen. Jener kann den Ton individuell genommen nüanciren; für diesen lebt ein durchgeistigter Vortrag nur in der Tonverbindung. Hieraus ergiebt sich aber für die musikalische Erziehung die doppelter Nutzen des Klavierspiels.

  1. lernt der Schüler leichter ein klargegliedertes Ganze zu bieten, weil der Klang des Klaviers keiner Gefühlsschwelgerei, die sich an den individuellen Ton heftet, Vorschub leistet. Instrumente mit fortsingendem Ton berauschen zu sehr im Einzelnen. Die diesem letzteren sich hingebende Empfindung erfährt aber beim Klavier weniger Befriedigung, als das der Form zugewandte Denken.

  2. soll trotz der fehlenden Continuität des Klanges und anderer noch zu erörternden Unzulänglichkeiten der Tonbildung doch auch im Klavierspiel den Gefühlsansprüchen genügt werden. Denn dieses nimmt so gut wie jede Musikgattung vom Seelenleben seinen Ausgang. Das bloße Hingeben an die Empfindung reicht nur in den günstigsten Fällen. Im Ganzen wird die reflectirende Kritik derart dominiren, daß man das Gefühlsleben, grade um es würdig darzustellen, dem Geschmack unterordnet.

Eine der größten Schwierigkeiten bietet dem Klaviervortrag die relativ geringe Nachgiebigkeit des Schlagmechanismus. Bei den meisten Instrumenten ist das Verhältniß zwischen der Steigerung des Klanges und der des Kraftaufwands etwa proportional.Beim Pianoforte trifft dies nicht durchaus. Unendlich oft beobachtet der Lehrer, daß der Schüler die Fingerkraft deutlich steigert oder mindert, ohne die Nüance in entsprechender Klarheit zu vernehmen. Auch die besten Instrumente beseitigen dies Mißverhältniß nicht völlig. Es ist vielmehr von der Mittelbarkeit der Tonerzeugung unzertrennlich. Naturgemäß ergiebt sich daraus das ebenso oft beobachtete Factum, daß auf Grund einer erklärlichen Selbsttäuschung <11> der Schüler Nüancen zu hören glaubt, die er in den Fingern fühlt; daß er warm empfindet, warm vorzutragen glaubt, und für den Hörer gleichgiltig spielt. Erst die durch lange Uebung zur Gewohnheit gewordene Selbstkritik schafft schließlich einen secundären Zusammenhang zwischen Klangintention und Fingergefühl. Das Klavier hat statt der beim Gesang und vielen Instrumenten unmittelbaren Einheit eine mittelbare. Nur die höchste Anschlagsvollendung bietet jedem Effect die geeigneten Ausdrucksmittel mit einem Schein von Unmittelbarkeit.

Der Klavierspieler soll sich also seiner Empfindung nie ohne genaue Beobachtung und ein gewisses Mißtrauen hingeben. Wie wir sehen werden, folgt genau dasselbe auch aus der Kürze des Tons.

Alles musikalische Denken hat den Gesang zur ursprünglichen Grundlage. Der Pianist denkt vocale Partien zunächst ebenso, wie der Sänger. Aber darf er sie auch ebenso spielen, soweit es möglich ist? Und ist denn wirklich die thunlisht genaue Copie es Gesangvortrags dasjenige, was eine schöne Darstellung von Klaviercantilenen garantirt? Das trifft wohl oft, aber nicht immer. Der Sänger darf z. B. eher ritardiren; denn er kann jedem Einzelton durch individuelle Schwellungsfähigkeit Abwechslung geben; auch sorgt der sinnliche Reiz des Klanges dafür, daß der Hörer nicht ermüdet. Beide Vorzüge fehlen dem Klavier. Hält sich also die Empfindung des Pianisten betreffs des Tempo's an die des Sängers, so läuft er Gefahr, , zu - langweilen. Es ist eine alte Regel, Klaviercantilenen etwas zu beschleunigen. Uebrigens erhellt aus ihrer Begründung, daß sie meist da illusorisch wird, wo auch der Sänger nur in der Tonfolge, nicht aber im Einzelton, nüanciren würde.

Doch auch nach der Seite der Accentuation besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Klavier- und Gesangs- oder Geigenvortrag, der ebenfalls aus der Kürze des Pianofortetons folgt. Nehmen wir <12> ein Beispiel: Die Bach'sche Arie für die Violine auf der G-Saite beginnt mit einem langgehaltenen e'. Der Ton wird piano eingesetzt, und nachher läßt man ihn schwellen. Dadurch erhält er seine volle Bedeutung als Hauptton. Sowohl der ruhige Einsatz als das nachträgliche Crescendo entsprechen der getragenen, andächtigen Stimmung des Stückes. Hätte der Pianist dieselbe Stelle zu spielen, so müsste er den Ton stärker fassen, als der Geiger ihn einsetzt; sonst verliert er an Gewicht. Setzte er ihn aber mit der Kraft ein, die der letztere im Schwellungsmaximum aufbraucht, so würde trotz des weichsten Anschlags die ruhige Weihe des Ganzen gefährdet. Auch der leiseste Ton, wenn er nur lange fortsingt, hat eine viel intensivere Gewalt, als ein weicher Anschlag auf dem Klavier.

Im Unterricht macht man oft die Wahrnehmung, daß Schüler von guten Vortragsanlagen gern in langsamen, weichen Sätzen den Ton zu schwach anfassen. Nach dem oben Gesagten ist der Grund davon einleuchtend; er liegt im Anschluß der Phantasie an das gesangliche Denken, genau wie das dilletantische Verschleppen des Tempo's. Man giebt dem Anschlag nur so viel Gewicht, als der Geiger dem Klang bei seinem Beginn ertheilen möchte, und vergißt dabei, daß die Möglichkeit eines größeren Nachdrucks durch reine Continuität oder nachträgliches Crescendo an der Unzulänglichkeit des Mechanismus scheitern muß.

Für die künstlerische Darstellung des Einzeltons hat das Klavier nur den Accent, und eben dies begründet einen prinzipiellen Unterschied zwischen Klavier- und Gesangsvortrag. Die unmittelbare Empfindung hält sich an den fortdauernden Ton. Der Qualität und Quantität des Accents fällt die Aufgabe zu, seine Kürze vergessen zu machen. Ein solches Ersatzmittel ist aber nicht Produkt des Gefühls, sondern des Geschmacks.

Auch ist folgendes festzuhalten. Da der Gesang im Einzelton Nüancen kennt, das Klavier nur in der Tonfoge, so wird dieses sie <13> schon eben deswegen häufiger bringen müssen, wo es seinen Mitteln entspricht. Auch fällt der sinnliche Reiz der menschlichen Stimme so stark in's Gewicht, daß er trotz einer relativen Nüancenarmuth eine Ermüdung weit weniger befürchten lassen würde, als der kalte Klavierton.

Der Sänger darf sich seinem Gefühl viel eher überlassen, als der Pianist, falls sein Empfindungsleben überhaupt in der glücklichen Mitte zwischen Trockenheit und Ueberschwenglichkeit steht. Zwar findet auch der Klavierspieler genug Cantilenen, die einen Anschluß an die vocale Idee gestatten, nämlich solche, in denen die Nüancirung des Einzeltons kein Bedürfniß ist. Doch muß das Gefühl seine Darstellungsweise immer einer genauen Prüfung unterziehen. Erst eine lange Selbstkritik erzeugt solche Schulung, daß sie aus obigen Erörterungen folgenden Regeln ihm zur zweiten Natur werden und das Empfindungsleben wieder in seine vollen Rechte tritt. Auch hier ist die Einheit zwischen Intention und Ausdruckksmittel eine secundäre.

Kein Instrument hat so viel Vertreter, die trocken spielen, als das Klavier. Der Grund davon liegt nur theilweise in der erdrückenden Fülle des technischen Lehrstoffs. Fast noch mehr ist er darin zu suchen, daß der Ton des instruments zu sehr entmuthigt, als daß jeder die Aufgabe klar erfaßte, durch reflectirte, klaviermäßige Mittel eine Empfindung darzustellen, der ein enger Anschluß an den Gesang den Ausdruck versagt. Eben diese Schwierigkeit bietet aber auch der musikalischen Erziehung einen unberechenbaren Nutzen. Wo ein trockener Ton jede Ueberschwenglichkeit zurückweist, wird die Ueberlegung von selbst dominiren. Keine Kunst verführt aber so zu Uebertreibungen wie die Musik. Der üppige Reiz im Empfindungsschwelgen ist so intensiv, daß die Rücksicht auf Formgebung darüber leicht vernachlässigt wird; und doch ist gerade sie die hervorragendste künstlerische That.

Ehe wir von der allgemeinen ästhetischen Untersuchung auf die <14> im nächsten Kapitel folgende historische Entwicklung des Klavierspiels übergehen, haben wir noch einer demselben anhängenden Kunst zu gedenken, nämlich der Improvisation. Nächst der Dichtkunst kommt sie auf unserm Gebiet am vollkommensten zur Geltung, da ihr die übrigen Instrumente theils durch mechanische Unzulänglichkeit, theils, wie die Orgel, durch stylistische Einseitigkeit zu sehr den Flügel binden.

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Improvisation

Der Stoff, der bei der Improvisation vorliegt, ist die Naturkraft der Phantasie, die Elasticität ihrer Zeugungsmacht, besonders die Schnellkraft und Geistesgegenwart in der Entäußerung des Inhalts; die Geschicklichkeit besteht darin, die unter solchen Umständen sich hervordrängenden Ausbrüche in das Gewand einer vernünftigen Form zu kleiden.

Der Stoff gehört also hier zu den höchsten Leistungen der Naturkraft, und schon die bloße Anwesenheit desselben übt einen Reiz aus, wie keine andere Stofflichkeit. Die Stärke sowie die Behandlung desselben sind freilich zwei Faktoren, die in sehr verschiedenen Mischungen ein mehr oder minder proportionales Verhältniß gegeneinander haben können. Am seltensten wird ein solches Resultat aus beiden hervorgehen, daß die Idee in absoluter Klarheit und ungetrübter Reinheit bloß aus sich wirkt. Obwohl auch solche Fälle von großen Meistern wie Bach, Mozart, Beethoven überliefert werden, kommen doch bei der Wirkung die Umstände des Momentes zu sehr mit in Betracht.

Die Improvisation ist die Gymnastik der Phantasie, die Rennbahn, in der sich alle ihre Eigenschaften, Genialität der Erfindung, Gewandtheit in der Beherrschung aller Regeln, und der überlegende Geist der Form in allen Graden produciren können. Und daneben mag der Glanz der Spieltechnik in allen Farben schillern. Die Improvisation ist das Mienenspiel der inneren Psyche, die freie Rede in Tönen, welche alle Vortheile der Beredsamkeit, die Wirkung <15> des Momentes geltend machen darf, in dem letzteren wesentlich und für denselben existierend; durch seinen Reiz das ersetzend, was der Leistung an vollendetem Kunstwerthe fehlen mag.

Diese Charakteristik der Improvisation gilt freilich ihrer künstlerischen Ausübung. Zu trennen sind davon diejenigen Arten, die mit schüchternen Versuchen des Dilettantismus, oder mit bloß technischer Spielseligkeit näher zusammenhängen. Ohne den letzteren das Wort zu reden, tragen doch auch sie ihre Berechtigung in sich; und wenn es erwiesen ist, daß das blinde Tappen in den Geheimnissen der Kunst, das erste Aufkeimen phantastischer Gelüste, der ganze dilettantische Standpunkt in seinem Vorahnen des Schönen das letztere doch allmählig anbahnt, oft sogar noch größere Glückseligkeit gewährt, als die künstlerische Sachkundigkeit, die wegen ihrer Klarheit fast immer mit dem unglücklichen Nichtgenügen des einsichtigen Geistes verbunden bleibt, so muß auch in diesem Sinne dem Klavier die dankbarste Anerkennung gezollt werden.

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