Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

S. 52 - Texterweiterung der 8. Auflage (1920)

zurück  (Kap. 3, S. 52)

[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

<*45> Wer diese Dinge nicht oder am unrechten Ort gebraucht, hat einen schlechten Vortrag. Ein guter Vortrag besteht also darin, dass man alle Noten mit den ihnen zugemessenen guten Manieren zu rechter Zeit in ihrer gehörigen Stärke durch einen nach dem wahren Inhalte des Stückes abgewogenen Druck mit leichtem (rundem, reinem, fliessendem) Anschlage bei steter Berücksichtigung des benutzten Instrumentes zu Gehör bringt, dass man unter sorgfältiger Beobachtung der Affektenlehre Art und Eigenschaft des Allegro und Adagio beachtet und weder "klebericht" noch zu kurz spielt. Aus der Seele muss man spielen, nicht wie ein abgerichteter Vogel. Alle Manieren zur Erreichung eines langen Tonhaltens (Triller, Mordenten usw.) müssen so vorgetragen werden, dass man bloss simple Noten zu hören glaubt. Um Einsicht in den wahren Inhalt und Affekt eines Stückes und seines richtigen Vortrages, seiner Manieren usw. zu erlangen, höre man oft einzelne Musiker oder musikübende Gesellschaften, namentlich aber gute Sänger. Denn man soll singend denken und sich oft die Gedanken zur Bestimmung des richtigen Vortrages vorsingen. Der zutreffende Bewegungsgrad des Stückes ist durch die italienischen Tempovorschriften, aus Inhalt und Bewegung der schnellsten Noten <*46> und Figuren zu bestimmen. Ein gutes Mittel, aufs Gemüt der Zuhörer zu wirken, bilden die freien Phantasien, die aus guter musikalischer Seele kommen, sprechend in hurtigen Ueberraschungen von einem Affekte zum andern eilen: das Phantasiren ohne Takt scheint dazu besonders geeignet, da jede Taktart eine Art Zwang mit sich führt, ähnlich wie beim begleiteten Rezitativ. Zum guten Vortrag ist die sorgfältige Respektierung nicht nur der Tempovorschriften, sondern auch der erläuternd beigesetzten Hilfsworte, der an die Noten gesetzten Bogen, Punkte des Portamento, der Bebung usw. unerlässlich. Ueber die Verzierung der Kadenzen werden wir weiter unten bei Türk Aehnliches und Ausführlicheres erfahren. Bei Allegris mit zwei Reprisen muss man die Veränderungen vorsichtig anbringen. Man muss nicht alles verändern, weil es sonst ein neues Stück sein würde; namentlich die affektvollen sprechenden Stellen soll man unverändert lassen, alte Veränderungen aber nach dem Affekt des Stückes vornehmen. Sie müssen wenigstens ebenso gut wie das Original sein. Ihre richtige Anwendung ist oft schwer, da man oft simple Gedanken bunt verändern muss oder umgekehrt, da man das ganze Stück und eine genügende Abwechselung der Affekte beobachten muss. Man darf unter Umständen den Bass verändern, muss aber die Harmonie unangetastet und die den Affekt des Stückes bestimmenden Grundlinien deutlich durchschimmern lassen.

zurück  (Kap. 3, S. 52)
nach oben