Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

S. 53 - Texterweiterung (1) der 8. Auflage (1920)

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[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

<*47> Seine [Marpurgs] Eintheilung ist logisch genug. Das erste Hauptstück, in neun Abschnitte getheilt, giebt eine gute Elementartheorie der Musik; es behandelt der Reihe nach die Benennung der Töne, die Noten, ihren Werth, usw., die Schlüssel, den Takt, die Pausen und übrigen musikalischen Zeichen, die Tonarten und - in zwei besonderen "Artikeln" - die Manieren. Dieses ist der wichtigste, für eine tiefere Kenntniss der als selbstverständlich erlaubten und geforderten Freiheiten in Verzierungen, Auszierungen, Ausfüllungen usw. in der alten Klaviermusik gleich den Ausführungen in Quantz' Flötenschule oder Mozarts Violinschule für uns epochemachende und unvergängliche, ja autoritative Theil des Buches, das darin namentlich wegen der klaren, von reichen Notenbeispielen unterstützten Darstellung dieses Theiles - zur Fundgrube einer richtigen Kenntniss alter, nur aus ihrem Zeitgeiste heraus gut zu verstehender Klaviermusik und zu ihrem Vortrag nöthiger Anweisungen wird, die auf dem ästhetischen Gesetze der nur dem Geschmacke untertanen Freiheit des Spieles jener Zeiten sich stützen. Diese dem subjektiven Geschmacke überlassenen auszirenden Manieren, die aus Italien herüberkamen, nennt Marpurg willkührliche oder "Setzmanieren", die aus Frankreich (Clavecinisten) stammenden regulären, genau vorgeschriebenen Manieren, als da sind: Bebung, Vorschlag, Nachschlag, Doppelvorschlag, Schleifer, Doppelschlag, Triller, Mordent, Brechung: wesentliche oder Spielmanieren. Die Setzmanieren sind "nichts anders als eine Verbindung einer oder mehrer Nebennoten mit einer Hauptnote aus der Melodie; sind sie in der Harmonie enthalten, so heissen sie harmonische Nebennoten, wo nicht, Wechsel- oder durchgehende Noten". Die Spielmanieren "pfleget man zum Unterscheid der eben gedachten willkührlichen, insgemein wesentliche Manieren zu nennen, weil sie überall in jedem Stücke gebraucht werden". Das zweite Hauptstück des Werkes ist den praktischen Grundsätzen des Klavierspielens oder der Lehre von der Fingersetzung gewidmet und umfasst neben der Einleitung drei Abschnitte: von dem besonderen Gebrauch eines jeden Fingers in Ansehung der vier anderen, von der Befingerung mehrstimmiger Sätze und (in 3 Artikeln) von der näheren Anwendung der Regeln der Applicatur, alles in knappster, vorzüglich pädagogischer und klarster Art und Weise dargestellt. Das Wesentlichste dieser Kapitel hat Türk in seiner grossen Klavierschule, zu der wir bald übergehen, zusammengefasst und eingehender dargestellt, und so erübrigt sich ein ausführliches Eingehen auf ihren Inhalt, zumal ihre ästhetische Bedeutung an die der Manieren-Kapitel nicht entfernt heranreicht. Marpurg hat eben nicht nur die schwierigen "willkührlichen Manieren", in ihrer Eintheilung nach 5 Klassen, sondern was für uns kaum minder zu wissen wichtig ist, auch knapp und klar Zweck und Grenzen ihrer Anwendung festgelegt (S. 43): "Mit diesen itzt erklärten Setzmanieren werden die sogenannten Cadenzen, ingleichen die willkührlichen Veränderungen gemacht, mit welchen man aus dem Stegereif ein Stück auszuziren pfleget", und sagt, dass "ein Stück wohl ohne jede willkührliche Zierrathen, aber niemals ohne diese kleine wesentliche Ausschmückungen vorgetragen werden" kann, dass kein Instrument ihrer mehr bedarf als das Klavier. Freilich muss man sich vor jeder übertrieben reichen Anwendung derselben <*48> hüten. Die erste Klasse (S. 39 f.) beherbergt die einfachen (1) und (Abwechselung mit der Oktave) springenden (2) Schwärmer bei Verkleinerung der Hauptnote durch sich selbst (Unterarten: Schwärmer mit Abkürzen (3), Trennen (4), [Unterdrückung der kleineren zweiten bzw. ersten], Rückung (5), Haltung (6), als "schwebende Manieren". Die zweite die "lauffenden Figuren" (7), (stufenweise auf- und abwärts) die dritte die "rollenden Figuren" (Walze, Groppo (8), Halbzirkel (mezzo circulo) (9), die Noten gehen nicht gerade fort, sondern man weicht von einer auf die andere beständig zurück), die vierte die "springenden Figuren" als akkordische Brechungen (10), die letzte die "vermischten Manieren" (Vermischungen aller vorigen als Passagen, Gänge, Wendungen usw.).

Zum Lernen des Klavierspieles hält er nicht, wie man erwarten sollte, das schattierungsfähigere Clavichord, sondern den Flügel, und ganz besonders den von ihm für Ausführung der "Bebung" besonders geliebten Hohlfeldschen Bogenflügel - auch ein später wieder aufgegebener Versuch, die Wirkung der Streichinstrumente mit der des Klaviers zu vereinen - am geeignetsten, "weil der Ton sich nicht so bald darauf verliehret, und man folglich eher höret, ob der Scholar, nach erloschnem Wehrte der Noten, die Finger hurtig von den Tasten aufhebet oder nicht, und man ihn dadurch vor der klebrichten Spielart bewahren kann" - eine Befürchtung des "unsauberen Spielens",wie wir heute sagen, die durch alle Klavierlehrbücher des 18. Jahrhunderts geht.

Nun zur Erklärung Marpurgs Notenbeispiele:

[Notenbeispiel in Arbeit]

  1. Einfacher Schwärmer
  2. Springender Schwärmer
  3. Schwärmer mit Abkürzungen
  4. Schwärmer mit Trennen oder Verbeissen
  5. Rückung
  6. Haltung
  7. Laufende Figuren, Tiraten [im langsamen Tempo auch "Züge", im schnellen "Schüsse" genannt (Leop. Mozart)].
  8. Auch in Triolen-, chromatischen Skalen-, Terzintervall-Ausfüllungen möglich (Leop. Mozart), z.B.:

  9. Walze
  10. Halbzirkel
  11. Akkordische Brechung
    (bei 8 Noten: Ganzzirkel genannt.)
    Accentuierte Brechung
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