Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 11

S. 253 - Texterweiterung der 8. Auflage (1920)

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[Die 8. Auflage enthält vom Beginn des Kapitels an folgenden Text:]

Die Mechanik enthält Schönheitselemente von zunächst äußerlicher Natur. Sie drückt die Ueberwindung eines Stoffes aus, der ursprünglich vom Gesetz der Schwerfälligkeit und widerstrebender Naturneigungen beherrscht, sich dem Inhalte des Willens zur Herstellung formeller und physisch-dynamischer Idealität fügen <*250> muß. Dies geschieht in einem langwierigen Kampfe, der zuletzt einen Mechanismus gewinnt, welcher in einer großen Summe einzelner Gliederungen ein und dieselbe einheitliche Idee niederlegt. Diese Durchführung eines einheitlichen Zweckes durch alle Theile des mannigfaltigen Bewegungslebens des letztern ist das Schöne der Technik. Je mannigfaltiger ein Gebiet ist, um so höher ist die schönheitliche Vollkommenheit, die darin den Gedanken der Einheit herzustellen weiß, und von diesem Gesichtspunkte aus muß die Mechanik des Klavierspiels in jeder Beziehung einen höheren Grad der Schönheit beanspruchen, als andere Gattungen der Gymnastik.

Zehn ganz ungleiche Organismen mußten zunächst zu einem Zwecke, zu derselben Idee einheitlich zusammentreten. Zunächst die Finger.

Der Fingermechanismus ist ein ebenso dankbarer als undankbarer Organismus und will in steter Uebung erhalten sein. Hat sich aber wirklich einmal das unendliche Viele und Kleine zur vollendeten Einheit der künstlerischen Hand entwickelt, so wird man, um die Grenzen einer Schönheit der Mechanik zu erkennen, zunächst einen Vergleich derselben mit dem Tanz machen müssen.

Die Bewegungen der Spielglieder symbolisiren noch häufiger Innerliches, da sie von der Freiheit schöner Formbildungen mehr absehen müssen als der Tanz. Hinsichtlich der letzteren beschränkt sich der Reiz auf die verschiedenen Grade des Fingerlaufes. Derselbe manifestiert sich im vibrirenden Spiel auf einer Stelle, in der Behendigkeit der kleinen, größeren und über das gewöhnliche Maaß hinausgehenden Fingerschritte, welche zuletzt in equilibristischem Sinne Elastizität und wunderbare Muskelstärke produziren können. Dazu kommt die Grazie des Handgelenkschwunges, jenes Wellenspiels von gerundeten Bewegungen, das sich wiederum in verschiedenen Graden der Elastizität und Kraft, vom leichten einzelnen Schwunge an bis zur scheinbar die Kräfte übersteigenden Kette von stahlfederartigen Schnellschwingungen, entfalten kann. Im Oktavenspiel wie im Fingerspiel entwickelt sich eine unendliche Vielheit der den Raum durcheilenden Bewegungsformen. Da schiesst die einfache Linie, der Zickzack, das parallele Linienpaar, die umkehrende, sich bogenartig verschlingende Linie, und jene unendliche Musterkarte von netzartig durcheinander gewundenen Girlanden, Touren und Läufen aller Art über den glatten Tastenraum. Bald ist es eine Hand allein, die sich der Laune der gymnastischen Lust hingiebt, bald wetteifern beide in den verschiedensten Beziehungen, die Fülle der Formen zu erschöpfen. Bald ist es das zarte <*251> Streicheln der Fingerspitze, bald die ihre Beute durchbohren wollende Hand. Einmal falten sich die Finger enggeschlossen wie eine Masse zusammen, ein andermal fahren sie im Tarantellauf, spinnenartig auseinander gespreizt daher, dann wieder stehen ein oder mehrere Finger fest wie eingewurzelt auf einer Stelle, und andere weben geheimnißvolle Figuren, dann springt geschossartig, oder wie der Löwe auf seine Beute sich wirft, die Hand von einem Punkt nach einem entfernten. Genug, die Finger entfalten ein wunderbares Weben und Leben. Aber es ist einmal immer das Ganze, was in die Augen springt. Auch das Einzelne reizt, auch der Anschlag repräsentirt eine Summe schöner Formen. In ihm erscheint der Finger wie eine beseelte nach Sprache ringende Individualität. Wie er so steht und mit der Taste feinfühlig in innerster Beziehung bleibt, symbolisiert er im Kontraste gegen das Getümmel der Passagen, einen Monolog. Er zeigt die Feinheit und Grazie des Tastsinnes im Berühren, er drückt sich anschmiegend gegen die Taste mit einer Weicheit, als ob er nur Muskel ohne Knochenbestand wäre, er streichelt über eine und dahingleitend über mehrere, als ob er fühlende Wesen beleben wollte, er sticht auf sie herab, schlägt, straft gewissermaßen, ein andermal fällt er matt, vergleichbar einem Tropfen, einer Perle, wie erschöpft auf seinen Treffpunkt.

Und nun die Schwungkraft des Armes. Wie das ruhig dahin gleitende Fahrzeug streicht er die glatte Fläche entlang, auf der sich die kleineren an seinen Stamm anschließenden Spielpersönlichkeiten thummeln. - Das Handgelenk führt die letzteren freier in die Höhe, und ließ sie Diener werden für mächtigere Intentionen der Kraft. Der Arm ist aber das höchste Aufgebot der Stärke. Wie der Herrscher, der meist von ruhigem Standpunkte aus leitet, verharrt der Arm beim gewöhnlichen Legatospiel, wenn er aber einmal sich erhebt und selbst in das Getümmel eingreift, entfaltet das ganze Bild die höchste Spannung der Lebendigkeit. Im schnellen Sprunge fliegen die Finger durch die fernsten Grenzen der Räumlichkeit, unter der gigantischen Wucht des Oberherrschers prallen sie elastisch im Stahlfederschwunge hoch von den Tasten in die Luft, um sich von solcher Höhe herab auf die Ebene zu stürzen, in die sie sich verwühlen, um ihr den kräftigsten Laut abzuringen. Ein andermal wallt und wogt das Armspiel im luftigsten Tanze und scheint die Töne hoch zu ziehen in den Aether, in dem sich ihr leisester Hauch verflüchtigt.

Dies vielfältig Komplizierte, in jedem Gliede selbstständig Freie, in der Einheit aller organisch Zusammengehörige und von einer Idee durchdrungene Ganze ist die künstlerische Hand. <*252> Ihre physischen Eigenschaften nach der Richtung unbeweglicher Festigkeit, Geschmeidigkeit und Kraftwirkung hin, sind auf das möglichst Vollkommenste ausgebildet. Die Ruhe als passive Kraftwirkung gestaltet sich zur muskulösen Festigkeit auf jedem der Punkte, wo sie dem beweglichen Prinzip gegenüber die unerläßliche Vorbedingung ausmacht. Das Bewegliche muß bei größter Leichtigkeit die vollkommenste Kraft repräsentiren und überdem dieselbe in einer Feinheit der Nüancierung vom schwächsten bis zum stärksten Ausdruck in der Gewalt haben. Auf diese Weise geht der Ausdruck der Kraft in den der Geschicklichkeit, das bloß Starke in das Graziöse über. Dieser vollkommene Gegensatz der Leichtigkeit und Kraft, der Ruhe und Bewegung besthätigt sich in der unendlichen Vielheit aller Bewegungen.

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