Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 18

S. 386 - Texterweiterung der 8. Auflage (1920)

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11. W. v. Lenz (Beethoven, eine Kunststudie, 2. Aufl., Hamburg, Hoffmann & Campe, III, 1, S. 70 ff.) sagt, daß die Sonate eine Liebesphantasie sei. Adagio: Der Dichter mit dem Sturm im Herzen am nächtlichen Meeresgestade im Mondlicht. Der wunden Seele entringt sich, nachdem ihn Sorgen und Noth verlassen, ein Dankgebet-Allegretto. Ein heller Ton zieht durch die Tiefe, durch das Herz. Der Ton bringt aus der Tiefe das Bild der Geliebten Presto agitato: Mit dem Tage kommt der Sturm, der Satz ist das sturmbewegte Meer der entfesselten Leidenschaft.

12. In der "Neuen Musik-Zeitung" Stuttgart C. Grüninger, Jahrgang 1884, S. 126, heißt's in Carl Zastrows Novelle "Giulietta und Leonore" vom ersten Satze: "Die sanft ineinander fließenden Akkordwellen drücken das Erwachen, das leise Empordämmern der Liebe in einem jungen Menschenherzen aus. Eine unbestimmte nach Erlösung seufzende Sehnsucht, ein ununterbrochenes Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung, das ist ungefähr der Inhalt. - Der zweite Satz enthält das schüchterne Geständniß, die bange Frage: Liebst du mich? Er drückt die schwere über die Lippen rollende Bitte um Gegenliebe aus. Der dritte Satz wird unter allen Umständen ein Presto sein, entweder ein Presto agitato oder ein Presto furore. Massloser Jubel oder rasende Verzweiflung, je nachdem die Antwort auf das bange Liebeswerben ausfällt,

13. Adolph Alb. Schmitz (Die Cis-moll-Sonate, Op. 27,2, Remscheid-Hasten, im Selbstverlage 1892) wendet sich mit Recht gegen Zastrows Erläuterung des ersten Satzes und führt uns mit Ulibischeff und Köhler auf einen Kirchof. Er sieht eine arme Witwe langsam wankenden Schrittes dem Grabe ihres verstorbenen Mannes sich nähern und auf dem Friedhofe sich ergehen mit dem Gedanken: Ist's ein Leid, so schick' dich drein. Im Allegretto ruft Beethoven der armen, verlassenen, spazirenden Witwe in 3tönigen Akkorden zu: "Glaube an die Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit". (1) Dulde muthig, bete und arbeite, vertraue auf Gott, er läßt dich und deine Kinder nicht untergehen. Im Presto wird die Witwe in einen Kampf ums irdische Dasein verwickelt ..., sie macht sich Vorwürfe, es kommen Gewissensbisse, Fingerzeige von oben, es kommt Reue, es kommen ihre Klagen. Zuweilen ertönen Durakkorde zu ihrem Troste, aber die geringe Hoffnung wird durch die große Trauer verwischt und verscheucht. Der zweite Theil ... endet mit dem allerletzten Kampfe, dem Todeskampfe.

14. C. Reinecke (Die Beethovenschen Klavier-Sonaten, Leipzig 1896, S. 48f.) weist mit Jos. Wasielewski (Beethoven, Berlin 1888, I, S. 150) <*365> eine Erklärung der letzten Sätze des Werkes unter Bezugnahme auf den "Mondschein" mit Recht ab, verweist auf Liszts idealen Vortrag dieser Sonate und giebt vortreffliche praktische Ratschläge für die richtige Interpretation.

15. Willibald Nagel (Beethoven und seine Klavier-Sonaten, Langensalza 1903) sagt in seiner feinsinnigen, allem Fabuliren fernbleibenden Analyse dieser Sonate (S. 206 f.): Ein Klagelied des Einsamen erschien uns der erste Satz, ein freundliches Trugbild der erschöpften Sinne der zweite. Ihm schließt sich (im dritten) das Bild der Wirklichkeit folgerichtig an, der Wirklichkeit, die kein Erbarmen, nur Kampf und Widerstreit feindlicher Gefühle kennt, denen der Schwache erliegt, die der Starke bezwingt. "Nichts von Ruhe." Das Beethovensche Wort findet auf das Finale seine volle Anwendung".

16. Anton Rubinstein (Die Musik und ihre Meister, Leipzig 1892, Bartholf Senff) spottet (S. 12f.) über die komischen Bezeichnungen, die das Publikum volksthümlich gewordenen Kompositionen giebt und verwahrt sich energisch gegen die Bezeichnung Mondschein-Sonate. "Mondschein erheischt in der Musik den Ausdruck des Träumerischen, Schwärmerischen, Friedlichen, Melancholischen, überhaupt des sanft Scheinigen - nun ist aber der erste Satz der Sonate Cis-moll tragisch von der ersten bis zur letzten Note (schon die Molltonart deutet darauf hin), also bewölkter Himmel, düstere Seelenstimmung - der letzte Satz gewitterhaft, leidenschaftlich, also vollkommener Gegensatz des friedlich Scheinigen - nur der kleine zweite Satz liesse allenfalls einen augenblicklichen Mondschein zu - und diese Sonate heißt allgemein die Mondschein-Sonate!"

17. Hector Berlioz (Gesammelte Schriften, deutsche Ausgabe von Richard Pohl, Leipzig 1864, Hirzel, Bd. I): "Die Cis-moll-Sonate ist bekannt; ihr Adagio ist von einer Poesie, die man in Worten nicht auszusprechen vermag. Die Kunstmittel sind hier außerordentlich einfach: die linke Hand entfaltet langsam und leise breite Akkorde von feierlich trauriger Färbung, deren lange Dauer möglich macht, daß jeder einzelne nach und nach verhallt. Darüber arpeggiert die rechte Hand in der Mittelstimme ununterbrochen eine Begleitungsfigur, deren Form vom ersten bis zum letzten Takt fast unverändert ändert dieselbe bleibt, während die Oberstimme eine Art von Klagegesang anstimmt, - die melodische Blüte jener düsteren Harmonien."

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