Nicolai: Musik & Artzneygelahrtheit

§. 15. Warum die Musik in verschiedenen Personen verschiedene Wirckungen hervorbringet.

So gewiß es ist, daß die Musik das Gemüth bewegen kan, so ist doch hieraus noch nicht klar, warum dieselbe in verschiedenen Personen gantz verschiedene Wirckungen thut. Der eine wird von einer Musik gerührt, der andere nicht. Diesem gefällt mehr eine traurige als lustige Musik, und jener hat an einer lustigen Musik mehr Vergnügen als an einer traurigen. Woher kommt das? Das meiste kömmt hier auf die Verschiedenheit des Geschmacks, des Temperaments und andere Umstände an. Wer keinen Geschmack an der Musik findet, kan davon nicht gerühret werden. Es kan seyn, daß ein solcher in seiner Jugend bey der Musik übel ist tractiret worden, oder daß ihm sonst etwas wiedriges dabey begegnet ist, welches ihm ein starckes Mißvergnügen verursachet hat, so hernach so ofte wieder entstehet, als er eine Musik höret. Wer einen grössern und stärckern Geschmack an der Musik hat, entdeckt nicht nur mehrere und grössere Vollkommenheiten als ein anderer, der einen kleinern besitzt, sondern seine Vorstellungen sind auch klarer, lebhafter und lebendiger. Er wird demnach viel stärcker, durch eine gute <27> Musik gerührt und in einen grössern Affect gesetzt als ein anderer. Man siehet dieses an geschickten und geübten Musicis. Diese finden an einem schönen musicalischen Stücke ein ungemein Vergnügen, da hingegen ein anderer sich gar wenig daraus macht. Gesetzt also, daß der Geschmack bey gewissen Personen verschieden ist, so kan der eine in einer Musik viele Vollkommenheiten antreffen, die der andere entweder gar nicht sieht oder wohl gar für Unvollkommenheiten hält. Und daher läßt sich begreifen, warum eine Musik den einen vergnügt, dem andern aber mißfält. Zwey Musici von verschiedenen Nationen, als ein Franzose und Italiäner werden sehr selten in Beurtheilung der Schönheit eines musicalischen Stücks einerley Meinung haben. Woher sollte aber dieses anders kommen, als von der Verschiedenheit des Geschmacks?

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