Quantz: Anweisung - Kap. 18

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§. 84. Den merkwürdigen Zeitpunct, worinne absonderlich der Geschmack der Deutschen, in Ansehung der Vocalcomposition, angefangen hat, eine bessere Gestalt zu gewinnen, könnte man ohngefähr um das Jahr 1693 setzen, als zu welcher Zeit, nach des, um die Vertheidigung und die Geschichtskunde der Musik ausnehmend verdieneten Herrn Matthesons Berichte, im musikalischen Patrioten, S. 181 und 343 der Capellmeister Cousser die neue oder italiänische Singart in den Hamburgischen Opern eingeführet hat. Um eben diese Zeit fieng der berühmte Reinhard Keiser an, sich mit seinen Operncompositionen hervorzuthun. Dieser schien zu einem, mit reicher Erfindung verknüpfeten, angenehm singenden Wesen gleichsam gebohren zu seyn, er belebte also die neue Singart damit auf eine vorzügliche Weise. Ihm hat der gute Geschmack in der Musik in Deutschland, unstreitig, viel zu danken. Die in Hamburg und Leipzig nach dieser Zeit ziemlich lange in blühendem Zustande gewesenen Opern, und die berühmten Componisten, welche, zugleich nebst Keisern, von Zeit zu Zeit, ungeachtet der öfters schlechten, und nicht selten gar niederträchtigen Texte, für dieselben gearbeitet haben, haben zu dem Grade des guten Geschmackes, in welchem die Musik in Deutschland gegenwärtig steht, gute Vorbereitungen gemachet. Es könnte als ein Ueberfluß angesehen werden, wenn ich diejenigen großen Männer, welche sich in den itztgenannten Zeiten, sowohl in der Kirchen? Theatral? und Instrumentalcomposition, als auch auf Instrumenten, unter den Deutschen berühmt gemachet haben, und deren einige entschlafen, einige noch am Leben sind, alle mit Namen anführen wollte. Ich bin versichert, daß sie in und außer Deutschland schon alle so bekannt sind, daß ihre Namen, meinen musikliebenden Lesern, ohne vieles Nachdenken, gleich beyfallen werden. So viel ist gewiß, daß ihnen diejenigen, welche zu unsern Zeiten in der Tonkunst hervorragen, den größten Dank schuldig sind.

§. 85. Bey allen diesen Bemühungen brafer Tonkünstler aber, fanden sich in Deutschland doch noch immer unterschiedene Hindernisse, welche dem guten Geschmacke im Wege standen. Man war öfters nicht so bemüht, den <331> Erfindungen dieser berühmten Männer den gehörigen Beyfall zu geben, und ihnen nachzufolgen, wie es wohl hätte seyn sollen. An vielen Orten bekümmerte man sich nicht einmal darum: sondern blieb immer bey dem Alten stehen. Ja was noch mehr ist, es fanden sich vielmehr unterschiedene Widersacher, welche, aus einer ungereimten Liebe zu dem Alterthume, schon darinne, weil die Ausarbeitungen gedachter Männer von der alten Art abgiengen, Ursache genug zu haben glaubten, alles als Ausschweifungen zu verwerfen. Wie lange ist es her, daß man noch die alte Weise, in Deutschland, mit großer Hitze, obgleich desto schwächern Gründen, zu vertheidigen suchte? Viele, die auch noch Lust gehabt hätten zu profitiren, hatten weder das Vermögen, an solche Orte zu reisen, wo die Musik im Flore war, noch auch sich Musikalien von da zu verschreiben. Es ist nicht zu läugnen, daß durch die Einführung des Cantatenstyls, in die Kirchen der Protestanten, dem guten Geschmacke auch ein besonderer Vortheil zugewachsen ist. Allein wie viel Widerspruch hat es nicht zu überwinden gekostet, ehe die Cantaten und Oratorien in der Kirche einen festen Fuß haben fassen können? Vor wenigen Jahren gab es noch Cantores, die in ihrem mehr als funfzigjährigen Amte, sich noch nicht hatten überwinden können, ein Kirchenstück von Telemannen aufzuführen. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit an einem Orte in Deutschland gute, am andern aber sehr unschmackhafte und ungesalzene Musik angetroffen hat. Wer nun von Ausländern etwa, zum Unglücke, an einem der letztern Orte Musik gehöret hatte, und alle Deutschen hiernach beurtheilete, der konnte sich freylich von ihrer Musik nicht die vortheilhaftesten Begriffe machen.

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