Riemann: Klavierschule op. 39,1

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Kap. 11 [Seite 9 von 12]

Hält man fest, dass längere Phrasen entstehen durch Zusammenschiessen mehrerer Taktmotive, so ist damit ausgesprochen, dass diese ihre Sonderexistenz aufzugeben und in der Phrase aufzugehen haben; es bleibt aber dennoch im Interesse der Übersichtlichkeit der Kunstwerke geboten, die Taktmotive kenntlich zu erhalten. Wie das zu geschehen hat, ist die schwere Frage, deren Lösung ich gefunden zu haben glaube durch Aufstellung der agogischen Schattierung; nicht durch stärkere Hervorhebung, regelmässige Accentuation der Taktanfänge, Takthälften etc. werden die metrischen Verhältnisse in der rechten Weise übersichtlich gemacht, sondern vielmehr durch exacteres Zusammenschliessen der zur engeren Einheit (des Taktmotives) zusammengehörigen Töne. Selbstverständlich müssen diese agogischen Schattierungen, diese vielfachen Veränderungen der Notenwerthe sehr klein sein und zwar so klein, dass man sie nicht mit Bewusstsein richtig abwägen kann; wollte man beim Spielen die geringe Zugabe zur Dauer jedes Taktmotivs bewusst kontrolieren, welche nöthig ist, um die Gliederung kenntlich zu machen, so würde der Ausdruck monstruös werden, denn es möchte dabei etwa folgendes herauskommen

Notenbeispiel S. 55, Nr. 1

d.h. die Themen würden vollständig zerbröckeln. Die Erreichung dessen, was nöthig ist, muss vielmehr auf einem Umwege erstrebt werden, indem man consequent die Töne zusammenliest, die zusammengehören, und es auf sich beruhen lässt, ob man diese Tonsilben durch Pausen (oder Verlängerungen) gegen einander abgrenzt oder nicht. Man beachte doch einmal den Unterschied, ob man spielt:

Notenbeispiel S. 55, Nr. 2

oder <56>

Notenbeispiel S. 56

die Accentuation nach der alten Lehre wäre in beiden Fällen die gleiche; woher also die Verschiedenheit des Ausdruckes, da doch alle Noten staccato zu spielen sind? Eine ganz minimale Verzögerung verräth, wie wir die Töne ablesen und verändert so den Ausdruck. Das von mir zur Kennzeichnung der Form der Taktmotive eingeführte Lesezeichen (') ist also nicht etwas überflüssiges, sondern eine nur ja nicht zu unterschätzende Hülfe für die Auffassung!

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