Sulzer: Theorie der Schönen Künste

Lauf, Läufe.

(Musik.)

<155re> Eine Folge melodischer Töne auf eine einzige Sylbe des Textes, die man auch mit dem italiänischen Worte Passagie, oder mit dem französischen Roulade nennt. Es ist wahrscheinlich, <156li> daß in alten Zeiten auf jede Sylbe des Textes nur ein Ton, höchstens ein paar an einander geschleifte Töne gesetzt worden. Doch hat schon der heil. Augustinus angemerket, daß man bey Hymnen bisweilen in solche Empfindungen komme, die keine Worte zum Ausdruk finden, und sich am natürlichsten durch unartikulirte Töne äußern; daher auch schon in alten Kirchenstüken etwas von dieser Art am Ende vorkommt. [...]

Es ist, wie schon Rousseau angemerkt hat, ein Vorurtheil, alle Läufe als unnatürlich zu verwerfen. Es giebt in den Aeußerungen der Leidenschaften gar oft Zeitpunkte, da der Verstand keine Worte findet, das, was das Herz fühlet, auszudrüken; und eben da stehen die Läufe am rechten Orte. Aber dieses ist ein höchstverwerflicher Mißbrauch, der in den neuern Zeiten durch die Opernarien aufgekommen, und sich auch von da in die Kirchenmusik eingeschlichen hat, daß lange Läufe, ohne alle Veranlassung des Ausdruks, ohne andre Würkung, als die Beugsamkeit der Kehle an den Tag zu legen, fast überall angebracht werden, wo sich schikliche Sylben dazu finden; daß Arien gesetzt werden, wo die Hälfte der Melodie aus Läufen besteht, deren Ende man kaum abwarten kann. Sie sollten nirgend stehen, als wo der einfache Gesang nicht hinreicht, die Empfindung auszudrüken, und wo man fühlet, daß eine Verweilung auf einer Stelle nothwendig ist. Der Tonsetzer zeiget sehr wenig Ueberlegung, der sich einbildet, er müsse überall, wo er ein langes a, oder o, antrifft, einen Lauf machen. Es giebt gar viele Arien, deren Text keinen <156re> einzigen erfodert, oder zuläßt. Vornhemlich sollten blos künstliche Läufe schlechterdings aus der Kirchenmusik verbannet seyn, weil es da nicht erlaubt ist, irgend etwas zu setzen, das die Aufmerksamkeit von dem Inhalt auf die Kunst des Sängers abziehet.

Von dem Vortrag der läufe findet man in Tosis Anleitung zur Singkunst, und den von Herrn Agricola daselbst beygefügten Anmerkungen einen sehr gründlichen Unterricht.

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