C. Ph. E. Bach: Versuch ... 1. Teil

Zweytes Hauptstück. Von den Manieren.

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Zweyte Abtheilung. Von den Vorschlägen. [§ 1-26]

<62> §. 1. Die Vorschläge sind eine der nöthigsten Manieren. Sie verbessern so wohl die Melodie als auch die Harmonie. Im erstern Falle erregen sie eine Gefälligkeit, indem sie die Noten gut zusammen hängen; indem sie die Noten, welche wegen ihrer Länge oft verdriesslich fallen könnten, verkürtzen, und zugleich auch das Gehör füllen, und indem sie zuweilen den vorhergehenden Ton wiederholen; man weiß aber aus Erfahrung, daß überhaupt in der Musick das vernünftige <63> Wiederholen gefällig macht. Im andern Falle verändern sie die Harmonie, welche ohne diese Vorschläge zu simple würde gewesen seyn. Man kan alle Bindungen und Dissonantien auf diese Vorschläge zurück führen; was ist aber eine Harmonie ohne diese beyden Stücke?

§. 2. Die Vorschläge werden theils andern Noten gleich geschrieben und in den Tackt mit eingetheilt, theils werden sie durch kleine Nötgen besonders angedeutet, indem die grössern ihre Geltung den Augen nach behalten, ob sie schon bey der Ausübung von derselben allezeit etwas verlieren.

§. 3. Das wenige, was etwa bey der ersten Art Vorschläge zu bemercken ist, werden wir am Ende anführen, und uns bloß jetzo mit den letzteren bekannt machen. Beyde Arten gehen so wohl von unten in die Höhe, als von oben herunter.

§. 4. Diese kleinen Nötgen sind entweder in ihrer Geltung verschieden, oder sie werden allezeit kurtz abgefertiget.

§. 5. Vermöge des ersten Umstandes hat man seit nicht gar langer Zeit angefangen, diese Vorschläge nach ihrer wahren Geltung anzudeuten, anstatt daß man vor diesem alle Vorschläge durch Acht=Theile zu bezeichnen pflegte,

Tab. III. Fig. I.

Damahls waren die Vorschläge von so verschiedener Geltung noch nicht eingeführet; bey unserem heutigen Geschmacke hingegen können wir um so viel weniger ohne die genaue Andeutung derselben fortkommen, <64> je weniger alle Regeln über ihre Geltung hinlänglich sind, weil allerley Arten bey allerley Noten vorkommen können.

§. 6. Wir sehen zugleich aus dieser Figur: daß die Vorschläge die vorige Note zuweilen wiederholen,

zuweilen auch nicht,

und daß die folgende Note hinauf und herunter gehen und springen kan.

§. 7. Ferner lernen wir aus dieser Abbildung [Tab. III. Fig. I.(a),(b)] zugleich ihren Vortrag, indem alle Vorschläge stärcker, als die folgende Note sammt ihren Zierathen, angeschlagen und an diese gezogen werden, es mag nun ein Bogen dabey stehen oder nicht. Diese beyden Vorsichten sind dem Endzwecke der Vorchläge gemäß, als wodurch die Noten zusammen gehänget werden sollen; man muß sie also lange, biß sie von der folgenden Note abgelöset werden, aushalten, damit sie gut binden. Der Ausdruck, wenn eine simple leise Note nach einem Vorschlag folgt, wird der Abzug genennt.

§. 8. Da die Zeichen der Vorschläge nebst den Zeichen der Triller beynahe die eintzigen allenthalben bekandten sind, so findet man sie auch gemeiniglich angedeutet. Da man sich aber dennoch nicht allezeit hierauf verlassen kan, so muß man versuchen, in wie weit es möglich ist, den Sitz dieser veränderlichen Vorschläge zu bestimmen.

§. 9. Ausserdem was wir im 6. §. gesehen haben, so kommen die Vorschläge von veränderlicher Geltung gemeiniglich vor: Bey gleichem Tacte im Niederschlage, <65>

Fig. II.

und Aufheben (b); bey ungleichem Tacte aber im Niederschlage alleine,

allezeit vor einer etwas langen Note. Man findet sie ferner vor den Schluß=Trillern (a). Vor den halben Cadentzen (b), vor den Einschnitten (c), vor den Fermaten (d), und vor der Schluß=Note nach (e) und ohne vorhergegangenen Triller (f). Wir sehen bey dem Exempel (e), daß nach dem Triller der Vorschlag von unten besser thut, als der von oben, deßwegen würde der Fall bey (g) nicht gut klingen. Langsame punctirte Noten vertragen diese Art von Vorschlägen ebenfals (h). Wenn diese Art von Noten auch schon geschwänzt wären, so muß doch die Zeit=Maaß gemäßiget seyn.

§. 10. Diese veränderlichen Vorschläge von unten kommen nicht leicht anders vor, als wenn sie die vorige Note wiederholen; die aber von oben trifft man auch ausserdem an.

§. 11. Nach der gewöhnlichen Regel wegen der Geltung dieser Vorschläge finden wir, daß die Hälffte von einer folgenden Note, welche gleiche Theile hat, und bey ungleichen Theilen (b) zwey Drittheile bekommen.

Ausserdem sind folgende Exempel merckwürdig.

[Zusatz in Ausgabe 1787:]
Bey Vorschlägen, wobey von dieser gewöhnlichsten Regel abgewichen wird, thut man wohl, daß man sie mit in den Tact eintheilt. Die Zerstreuung und auch bisweilen die Vermuthung, als ob der Copist den Vorschlag nicht accurat genug geschwänzt habe, aweil vor diesem alle Vorschläge ohne Unterscheid in der Geltung der Achtel vorgeschrieben wurden, kann in der Ausführung Fehler veranlassen, welche den Gesang verstellen und auch wohl zuweilen eine unreine Harmonie verursachen.

§. 12. Die bey Fig. VII.

befindlichen Exempel kommen auch oft vor. Die Schreib=Art davon ist nicht die richtigste, weil bey den Pausen nicht stille gehalten wird. Es hätten statt derselben, Puncte oder längere Noten gesetzt werden sollen.

§. 13. Es ist gantz natürlich, daß die unveränderlichen kurtzen Vorschläge <66> am häuffigsten bey kurtzen Noten vorkommen

Sie werden ein, zwey, dreymahl oder noch öffter geschwäntzt und so kurtz abgefertiget, daß man kaum merckt, daß die folgende Note an ihrer Geltung etwas verliehret. Dem ohngeacht kommen sie auch vor langen Noten vor, zuweilen wenn ein Ton einige mahl angeschlagen wird (b), auch ausser dem (c). Man findet sie ebenfalls vor Einschnitten bey einer geschwinden Note (d), bey Rückungen (e), Bindungen (f) und bey Schleiffungen (g); Die Natur dieser Noten bleibt dadurch unverletzt. Das Exempel bey (h) mit Vorschlägen von unten thut besser, wenn die Vorschläge als Achttheile gespielt werden. Uebrigens müssen bey allen Exempeln über die kurtzen Vorschläge, diese letztern kurtz bleiben, wenn auch die Exempel langsam gespielt werden.

§. 14. Wenn die Vorschläge Tertien=Sprünge ausfüllen, so sind sie auch kurtz. Bey dem Adagio aber ist der Ausdruck schmeichelnder, wenn die Vorschläge bey diesem Exempel

als Achttheile von einer Triole, und nicht als Sechzehntheile gespielt werden. Bey Fig. IX.(b) kan man die deutliche Eintheilung lernen. Manchmahl muß wegen gewisser Ursachen in einem Gesange die Resolution abgebrochen werden, allda muß der Vorschlag auch gantz kurtz seyn - Tab. IV. [Fig. IX.](c). Die Vorschläge vor den Triolen werden auch kurtz abgefertiget, damit die Natur der Triole deutlich bleibe (d) und widrigenfalls dieser Ausdruck mit dem bey (e) nicht verwirret werde. Wenn der Vorschlag die reine Oktave vom Basse hat, so kan er auch nicht lang seyn, weil die Harmonie zu leer klingen würde (f). Bey der verkleinerten Octave hingegen findet man ihn oft lang (g).

§. 15. Wenn ein Ton um eine Secunde steigt und alsdann wieder zurück <67> geht, es mag nun dieser Rückgang durch eine Haupt-Note Tab. IV. Fig. X, oder durch einen neuen Vorschlag, (a) geschehen,

so entsteht vor der mittelsten Note auch leicht ein kurtzer Vorschlag. Bey Fig. XI.

finden wir einen Haufen Exempel von allerley Noten, bey gleichen und ungleichen Tact-Arten; wir sehen aus dem einen Exempel, daß auch ein langer Vorschlag in diesem Falle angeht. Da gestossene Noten überhaupt simpler vorgetragen werden müssen als geschleifte, und da die Vorschläge insgesamt an die folgende Note gezogen werden: so versteht es sich von selbsten, daß bey diesem Falle ebenfalls geschleifte Noten voraus gesetzt werden. Uebrigens wird auch hierbey, wie bey allen Manieren eine proportionirte Zeit=Maaß erfordert, weil die gar zu grosse Geschwindigkeit keine Auszierungen verträget. Aus dem mit einem (*) bezeichneten Exempel sehen wir, daß bey dieser Gelegenheit, wenn nach einer kurtzen eine ungleich längere Note folgt, der Vorschlag vor dieser letzteren nicht gut thut. Wir werden in der Folge sehen, daß alsdenn eine andere Manier, welche besser ausfüllt, angebracht werden kan.

§. 16. Ausserdem, was bishero von der Geltung der Vorschläge angeführt worden ist, kommen zuweilen Fälle vor, wo der Vorschlag wegen des Affects länger, als gewöhnlich gehalten wird, und folglich mehr als die Hälfte von der folgenden Note bekommt, Fig. XII. (a).

Dann und wann muß man aus der Harmonie die Geltung der Vorschläge bestimmen; wenn bey (b) die Vorschläge ein gantzes Viertheil ausmachen sollten, so würden die zur letzten Baß-Note anschlagenden Quinten eckelhaft klingen, und bey (c) NB würden offenbare Quinten zum Gehör kommen, wenn der Vorschlag länger, als da steht, gehalten würde. Bey dem mit (*) bezeichneten Exempel <68> Tab. III. Fig. I. muß der Vorschlag auch nicht länger seyn, sonst klingt die Septime zu hart.

§. 17. Man muß also ebenfalls bey Anbringung der Vorschläge, wie überhaupt bey allen Manieren, der Reinigkeit des Satzes keinen Tort thun, deswegen sind die Exempel bey Fig. XIII. nicht wohl nachzuahmen. Folglich ist es am besten, man deutet alle Vorschläge samt ihrer wahren Geltung an.

§. 18. Alle diese Vorschläge, nebst ihren Abzügen, wenn sie zumahl häufig vorkommen, thun besonders bey sehr affektuösen Stellen gut, indem der letztere oft mit einem Pianißimo verlöscht,

Bey andern Gelegenheiten aber würden sie den Gesang zu matt machen, wenn sie nicht alsdenn entweder die Vorläuffer von lebhaftern Manieren wären, welche die folgende Note bekommet, oder selbst noch einen Zusatz von andern Zierrathen annähmen.

§. 19. Deswegen trägt man die folgende Note gerne simpel vor, wenn sie einen ausgezierten Vorschlag gehabt hat. Diese Einfalt wird durch das gewöhnliche diesen Noten zukommende Piano glücklich erhalten. Ein simpel vorgetragener Vorschlag hingegen leidet gerne eine ausgezierte Folge. Wegen des letztern Falles besiehe Fig. XV. (a) und wegen des erstern (b).

§. 20. Diese Ausschmückung der Vorschläge, indem sie oft neue kleine Nötgen erfordert, ist Ursache zu andern in der Folge erklärten Manieren, und <69> man pflegt also in diesem Falle diese Vorschläge gerne als ordentliche Noten in den Tackt mit einzutheilen (c). Bey langsamen Stücken kan zuweilen der Vorschlag so wohl als die folgende Note ausgeschmückt seyn (d).

§. 21. Dem ohngeacht pflegt man die Vorschläge oft deswegen in den Tact mit einzutheilen, damit weder sie noch die folgende Note ausgezieret werden (e).

§. 22. Die Noten nach den Vorschlägen, ohngeachtet sie von ihrem Werthe etwas einbüssen, verlieren doch nicht ihre Manier, wenn eine drüber steht Fig. XVI.

Hingegen muß man auch nicht die Manier über diese Noten setzen, welche der Vorschlag haben soll. Man muß also allezeit die Manier über ihren gehörigen Ort deutlich andeuten. Sollen Manieren zwischen dem Vorschlag und der folgenden Note angebracht werden, so müssen sie auch darzwischen angedeutet seyn. Fig. XVII.

§. 233. Vor ausgeschriebenen und in den Tackt eingetheilten Vorschlägen von oben können manchmahl so wohl lange als kurtze Vorschläge aufs neue angebracht werden, (1) wenn die vorhergehende Note wiederholt wird Fig. XVIII. (a); (2) wenn der ausgeschriebene Vorschlag nicht vor der Schluß-Note stehet, wie man bey (b) diesen Fehler sieht. Ausgeschriebene Vorschläge von unten leiden keinen neuen Vorschlag vor sich, weder von unten noch von oben (c); nachhero aber wohl (d).

§. 24. Ueber alle bishero angeführte Fälle, welche keine Vorschläge <70> vertragen, wollen wir noch einige oft vorkommende Fehler betrachten, welche bey Gelegenheit der Vorschläge begangen werden. Der erste ist dieser: Wenn man bey dem Schlusse nach einem scharfer Triller, in welchen man ohne Vorschlag hinein gegangen ist, einen Vorschlag von oben macht Tab. III. Fig. IV. (g).

Kommt ein Triller nach einem Vorschlage vor, so kan vor der folgenden herunter Fig. XIX. (a) oder hinauf gehenden Note (b) ein neuer stehen.

Der zweyte Fehler ist: Wenn man den Vorschlag von seiner folgenden Note abreißt, indem man ihn entweder nicht genugsam aushält, oder wohl gar in der Eintheilung der vorhergehenden Note mit anhänget Fig. XX. (a).

§. 25. Aus diesem letzten Versehen sind die häßlichen Nachschläge entstanden, die so gar ausserordentlich Mode sind, und welche leider noch darzu nicht eher gebraucht werden, als bey den sangbarsten Gedancken, z.E. (b).

Wenn ja Vorschläge hierbey angebracht werden sollten und müßten, so ist die Ausführung bey (*) leidlicher. Man siehet hieraus, daß man diese Fehler verbessern kan, wenn aus diesen Nachschlägen Vorschläge werden. Bey Fig. XXI. ist ein Fall wo die Nachschläge gut und gewöhnlich sind, das letzte Exempel ist mehr Mode als nach der Harmonie reine.

§. 26. Weil durch die kleinen eintzeln Nötgen oft etwas mehreres als Vorschläge angedeutet werden, so wollen wir in der Folge das nöthige dieserwegen anführen.

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