Parlar cantando oder
Die Kunst, musikalisch zu sprechen

Kompositionen aus dem Umkreis der Florentiner Camerata

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Sendung: 27.10.1992)

Musik-Nr.: 01
Komponist: Giulio Caccini
Werk-Titel: Le nuove musiche
Auswahl: "Movetevi à pietà" <Track 11.> 2:20
Interpreten: Montserrat Figueras (Gesang)
Label: RCA (LC ____)
GD 77 164
<Track 11.> Gesamt-Zeit: 2:20

Verehrter Leser,
wenn ich meine Studien in der Kunst des Gesangs und meine Kompositionen bislang noch nicht in Druck gegeben habe, so ist dies geschehen, weil ich sie der Veröffentlichung nicht für Wert erachtete und weil ich glaubte, es sei ihnen schon genug Ehre widerfahren, da sie von den berühmtesten Sängern und Sängerinnen ebenso geschätzt werden wie von den vornehmsten Dilletanten in der Gesangskunst. Aber ich sehe auch, daß viele meiner Stücke mittlerweile verunstaltet und geradezu zerrissen werden durch den üblen Gebrauch von Verzierungen, die ursprünglich gar nicht für die menschliche Stimme, sondern für Blas- und Saiteninstrumente gedacht waren. Deswegen halte ich es nun doch für notwendig, meine Musik in der Originalgestalt drucken zu lassen, um in der Ausführung wenigstens einen Fingerzeig zu geben, dem folgen mag, wer zu einem vollendeten Gesang gelangen will.

Mit diesen Sätzen leitete der Komponist Giulio Caccini seine Sammlung von Madrigalen und Arien ein, die er im Jahre 1602 unter dem Titel "Le nuove musiche" veröffentlicht hatte. Was Caccini in seiner Vorrede formuliert, ist ein altbekannter Topos, wie er häufig zu hören war in jener Zeit: die Klage, daß die Sänger mit übertriebenen und falsch angebrachten Koloraturen den Charakter der Musik verstümmeln. Und so gibt Caccini genaue Anweisungen, wie (und vor allem: an welchen Stellen) die einzelnen Verzierungen ausgeführt werden sollen. Unter anderem heißt es da:

Der Mißbrauch, der mit den Verzierungen getreiben wird, entsteht vor allem deswegen, weil der Musiker sich nicht geistig aneignet, was er singen soll. Und so verfällt er dem Irrtum, daß er das "Anschwellen lassen" der Töne, die Exklamation, die Triller, Gruppi und alle anderen Effekte ohne Unterscheidung anwendet, anstatt sich ihrer nur in der ernsten und leidenschaftlichen Musik zu bedienen, wo sie eher am Platze sind als bei den tänzerischen Kanzonetten.

Aber für Caccini steht nicht einmal sosehr die praxisbezogene Unterweisung der Sänger im Vordergrund. Der Titel der Sammlung "Le nuove musiche" (zu deutsch: "Die neuen Musiken") weist darauf hin, daß es um mehr geht. Und in der Tat: die Kompositionen, die Caccini hier vorstellt, beinhalten ein umfassendes neues musikästhetisches Konzept - ein Konzept, das mit dem bis dahin gültigen kontrapunktischen Regelkanon radikal bricht und das auf die damalige Musikwelt revolutionär gewirkt haben muß.

Musik-Nr.: 02
Komponist: Giulio Caccini
Werk-Titel: Le nuove musiche
Auswahl: "Amarilli mia bella" <Track 1.> 3:00
Interpreten: René Jacobs (Gesang)
Konrad Junghänel (Laute)
Label: HMF (LC 0745)
90 1183
<Track 1.> Gesamt-Zeit: 3:00
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Was aber war nun das eigentlich Neuartige an Caccinis Musik? - Die Musik, wie Caccini sie gegen Ende des 16. Jahrhunderts vorfand, wurde beherrscht vom polyphonen, mehrstimmigen Satz, der sich ausschließlich an den Regeln des musikalischen Kontrapunkts orientierte.

Es gibt einleuchtende Gründe, weswegen ich ich die kontrapunktische Musik nicht sonderlich zu schätzen vermag: Denn sie zerstört den Zusammenhang der Worte und das Versmaß der Dichtung, indem bald Silben verlängert, bald verkürzt werden, nur um den Gesetzen des Kontrapunkts gerecht zu werden. Es ist ein wahres Zerfleischen der Poesie, was in der kontrapunktischen Musik geschieht. - Aber selbst, wenn diese Kompositionen nur von einer Stimme gesungen werden (begleitet von einem Saiteninstrument), so kann man die Worte nicht verstehen, weil dann nämlich die Sänger, um Bewunderung und Beifall zu erheischen, die Musik mit überreich angebrachten Verzierungen auf den langen wie kurzen Silben versehen.

Woran sich Caccinis Kritik entzündete, ist also nicht sosehr das kompositorische Prinzip des Kontrapunkts als vielmehr das allgemeine Desinteresse der Musiker an der Sprache und am Inhalt der Texte.

Als Beispiel für die verzierte solistische Ausführung einer mehrstimmigen Komposition, wie Caccini sie beschreibt, mag das Madrigal "Anchor che co'l partire" von Cipriano de Rore stehen: zunächst in der fünfstimmigen Originalgestalt und anschließend in einer Fassung für Sologesang, die ein Zeitgenosse Caccinis, Giovanni Battista Bovicelli, ausgeziert hat.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Cipriano de Rore
Werk-Titel: "Anchor che co'l partire"
Interpreten: Collegium vocale Köln
Ltg.: Wolfgang Fromme
Label: CBS (LC 0149)
39 060
<CD __, Tr. __.> Gesamt-Zeit: 2:25
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Hier nun im Anschluß an die Original-Version des Madrigals von Cipriano de Rore die ausgezierte Fassung für Sologesang von Giovanni Battista Bovicelli.

Musik-Nr.: 04
Komponist: Cipriano de Rore,
Bearb.: Giovanni Battista Bovicelli
Werk-Titel: "Anchor che co'l partire"
Interpreten: Montserrat Figueras (Gesang),
Hésperion XX
Label: dhm (LC 0761)
1C 165-99 895
<Track __.> Gesamt-Zeit: 3:55
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Caccinis Kompositionen haben mit solch ausgezierten, solistisch gesungenen Madrigalen (wie dem soeben gehörten) wenig gemein. Nicht nur, daß bei Caccini der Gesang sich enger an das Versmetrum und an die Sprech-Melodie anschmiegt, - auch der Instrumentalpart wird anders gestaltet. Das polyphone Gewebe der begleitenden Stimmen, das im kontrapunktischen Satz gegenüber dem Gesangspart sehr eigenständig ist, wird bei Caccini abgelöst durch eine streng blockhafte akkordische Begleitung, die sich nur ändert, wenn der harmonische Zusammenhang es erfordert.

Die Kompositonen der "Nuove musiche" folgen dem Grundsatz, daß Musik in erster Linie Sprache und Rhythmus ist - und dann erst Melodie:

Und so kam mir der Einfall, eine Art Musik einzuführen, die es ermöglicht, musikalisch zu sprechen, indem man sich einer gewissen "sprezzatura", einer vornehmen Vernachlässigung des Gesangs bedient. Nachdem also mein Prinzip feststand, komponierte ich einige der Sologesänge, geleitet von der Überzeugung, daß nur solchem Gesange die Kraft innewohnt, die Gemüter zu erfreuen und zu erschüttern. In diesen Kompositionen habe ich stets danach getrachtet, den Sinn der Worte auszudrücken, indem ich, entsprechend den Gefühlsregungen bald mehr, bald weniger leidenschaftliche Saiten anschlug. Ich habe diese Madrigale in der Florentiner Gesellschaft zum Vortrag gebracht, und der freundliche Beifall, den meine Kompositionen dort fanden, hat mich bewogen, auf dem nämlichen Weg fortzuschreiten.

Musik-Nr.: 05
Komponist: Giulio Caccini
Werk-Titel: Le nuove musiche
Auswahl: "Se ridete gioiose"
"Amor ch'attendi"
<Track __.>
<Track __.>
1:45
0:55
Interpreten: Max van Egmond (Gesang)
Chris Farr (Cembalo)
Label: Label (LC ____)
____
<Track __.> Gesamt-Zeit: 2:40
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Angefangen hatte alles um 1570 in Florenz im Hause des Grafen Giovanni de' Bardi, wo sich mehr oder weniger regelmäßig die Florentiner intellektuelle Elite traf. Man disputierte über alle möglichen Themen - vorzugsweise über philosophische Fragen, die die griechische Antike betrafen -, man organisierte musikalische Veranstaltungen und musizierte auch selber. Der Sohn von Giovanni de' Bardi erinnert sich später:

Mein Vater besaß immer schon ein großes Interesse an der Musik und war auch als Komponist zu einigem Ruhm gekommen. So kam er auf den Einfall, die in dieser Kunst berühmtesten Männer der Stadt in sein Haus einzuladen, und schuf damit eine Art schöngeistiger Akademie, in der Laster und Würfelspiel verpönt waren. Diese Akademie wurde Anziehungspunkt für die adlige Jugend von Florenz, und sie war ihnen von großem Nutzen: Denn man beschäftigte sich dort nicht nur mit der Musik, sondern unterhielt sich ebenso über Dichtkunst, über die Astrologie und andere Wissenschaften, die man der gepflegten Konversation für Wert befand. Neben dem berühmten Vincenzo Galilei (dem Vater des nicht minder berühmten Astronomen Galileo) war auch Giulio Caccini ständiges Mitglied der "Camerata" meines Vaters, denn man achtete ihn trotz seiner Jugend als einen begabten und geschmackvollen Sänger.

Wenn auch Würfelspiel und andere Laster verpönt waren - Kostverächter waren die zwei Dutzend Mitglieder der sogenannten "Florentiner Camerata" jedenfalls nicht. Für ein abendliches Essen im Februar 1580 wurden dem Grafen Bardi in Rechnung gestellt:

Diskutiert wurde in dem humanistisch-kulinarischen Zirkel vor allem die Frage, wie wohl die Musik der alten Griechen geklungen haben mochte. Und nachdem man die Schriften von Platon und Aristoteles studiert hatte, glaubten Bardi und sein Freund Vincenzo Galilei, mit der einstimmigen rezitativischen Musik den Schlüssel gefunden zu haben.

Galilei, von Hause aus Lautenist, hat daraufhin mehrere Texte in dieser Weise vertont: unter anderem das Lamento des Grafen Ugolino aus Dantes "Inferno" und die Klagelieder Jeremiae aus dem Alten Testament. Leider sind diese Kompositionen nicht überliefert, so daß wir aus Galileis Feder nurmehr einige (im damals üblichen Zeitstil gehaltene) Lauten-Kompositionen besitzen.

Musik-Nr.: 06a
Komponist: Vincenzo Galilei
Werk-Titel: Fantasia
Contrapunto II
<Track __.>
<Track __.>
1:25
2:25
Interpreten: Anthony Rooley (Laute)
James Tyler (Laute)
Label: Dec (LC 0171)
6.42448
<Track __.> Gesamt-Zeit: 3:50
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alternativ:

Musik-Nr.: 06b
Komponist: Vincenzo Galilei
Werk-Titel: Contrapunto (2:20)
Urania (1:00)
Fantasia ottava (3:18)
Calliope (0:55)
Recercare (1:20)
Euterpe (1:35)
<Track 29.>
<Track 30.>
<Track 31.>
<Track 32.>
<Track 33.>
<Track 34.>
2:20
1:00
3:20
0:55
1:20
1:35
Interpreten: Monika Rost (Laute)
Jürgen Rost (Laute)
Label: Cap (LC 8748)
10 164
<Track 29.-34.> Gesamt-Zeit: 9:50
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Irgendwann nach einem guten Jahrzehnt, so um 1582, scheint sich der musizier- und experimentierfreudeige Kreis der "Florentiner Camerata" um Giovanni de' Bardi und Vincenzo Galilei aufgelöst zu haben. Die Idee jedoch, daß man die kontrapunktische Kompositionstechnik im Sinne eines vermeintlich antiken "rezitativischen" Musikideals reformieren und die Musik der Sprache und den menschlichen Gefühlsregungen dienstbar machen müsse, diese Idee wurde in der Folgezeit von anderen Komponisten bereitwillig aufgegriffen.

Doch zunächst gilt es, von den Festlichkeiten zu berichten, die im Jahre 1589 stattfanden, als der Florentiner Großherzog Ferdinando de' Medici sich mit Christine von Lothringen, einer Enkelin des französischen Königs, vermählte. Es war eine regelrechte Märchenhochzeit, die da in Florenz gefeiert wurde, ein mehrwöchiges grandioses Spektakel, wie es die Zeitgenossen noch nicht erlebt hatten. Höhepunkt war die Aufführung einer Komödie mit eingeschobenen szenischen Musikdarbietungen. Während das Schauspiel selbst gar nicht einmal so viel Anklang fand, war alle Welt fasziniert von den musikalisch-szenischen Zwischenstücken, den sogenannten "Intermedien".

Verantwortlich für die inhaltliche und szenische Ausgestaltung dieser Intermedien zeichnete der Graf Giovanni de' Bardi. Wer aber nun annimmt, Bardi habe hier im großen Stil seine neuen ästhetischen Vorstellungen verwirklicht und ein musikdramatisches "Gesamt-Kunstwerk" im Sinne er griechischen Tragödiendichtungen auf die Bühne gebracht, der sieht sich leider enttäuscht: Die Intermedien von 1589 unterscheiden sich nur geringfügig von dem in der Renaissance üblichen bunt gescheckten Theaterstil. - Für die musikalischen Teile hatte Bardi mehrere Komponisten beauftragt; er selbst schrieb nur einen fünfstimmigen Klagegesang der Dämonen in der Unterwelt. Aber auch Giulio Caccini ist vertreten: mit einer einstimmigen, allerdings noch überreich ausgezierten Aria der Muse, die in den himmlischen Sphären schwebt.

Musik-Nr.: 07
Komponist: Giovanni de' Bardi
Werk-Titel: "Miseri habitator"
Interpreten: Taverner Consort & Players
Ltg.: Andrew Parrott
Label: Name (LC 0110)
7 47998-2
<Track __.> Gesamt-Zeit: __:__
Musik-Nr.: 08
Komponist: Giulio Caccini
Werk-Titel: "Io che dal ciel cader"
Evera
<Track __.>
<Track __.>
__:__
__:__
Interpreten: Taverner Consort & Players
Ltg.: Andrew Parrott
Label: Name (LC 0110)
7 47998-2
<Track __.> Gesamt-Zeit: __:__
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In den Intermedien von 1589 begegnen wir erstmals auch dem Komponisten Jacopo Peri, der wenige Jahre später für die Entstehung der Oper bedeutsam wurde. Ähnlich wie Caccini bevorzugte auch Jacopo Peri den neuen, von der "Florentiner Camerata" propagierten solistischen Gesangs-Stil. Aber die Ähnlichkeiten sind nur äußerlicher Art. Vergleicht man nämlich Peris "Dunque fra torbid'onde" aus dem fünften Intermedium mit den Kompositionen von Caccini, so fällt auf, wie sicher Peri damals schon die dramatische Kraft und die Bühnenwirksamkeit dieses neuen Musikstils erfaßt hat.

Musik-Nr.: 09
Komponist: Jacopo Peri
Werk-Titel: "Dunque fra torbid'onde"
Interpreten: Covey-Crump,
King,
Rogers,
Taverner Players,
Ltg.: Andrew Parrott
Label: Name (LC 0110)
7 47998-2
<Track __.> Gesamt-Zeit: __:__
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Von Peris Beitrag zu den Intermedien von 1589 bis zur Entstehung der ersten Oper sollte noch ein gutes Jahrzehnt vergehen. Wohl schon tauchten in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts die ersten musikdramatischen Kompositionen auf, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Opern-Genre gehabt haben müssen: Der in Florenz ansässige römische Edelmann Emilio de' Cavalieri vertonte Teile aus Tassos ?Aminta? und aus dem "Pastor fido" von Guarini, und Jacopo Peri schrieb die Musik zu einer Pastoraldichtung über den "Daphne"-Mythos. Aber wie so vieles andere aus der Zeit sind auch diese frühen musikdramatischen Versuche verloren gegangen.

In den folgenden Jahrzehnten gab es eine ganze Reihe von musikdramatischen Versuchen - gelungene und weniger gelungene: 1601 ließ Emilio de' Cavalieri in Rom seine "Rappresentazione di anima e di corpo" drucken - eine Art geistliche Oper - und nur wenige Wochen später erschienen in Florenz - gleichsam als Replik - die beiden "Euridice"-Vertonungen von Peri und Caccini. Doch sollte es noch einige Jahre dauern, bis die Komponisten es dahin brachten, mittels der Musik die Gefühle und Leidenschaften in ihrer ganzen Tiefe wiederzugeben. 1607 war es, als Claudio Monteverdi am Hofe zu Mantua seinen "Orfeo" zur Aufführung brachte. Erstmals dient die Musik hier nicht mehr der Untermalung von Bühneneffekten, ist sie kein theatralischer Luxus, sondern Monteverdi setzt die menschliche Stimme gezielt ein, um (wie er später einmal schreibt) "die Herzen der Zuschauer zu bewegen".

Der Bitt- und Klagegesang des Orpheus vor den Toren der Unterwelt, man möge ihm Zutritt gewähren und die tote Eurydike freigeben, entspringt nicht einer bloßen spontanen Gefühlsregung, sondern spiegelt in seiner emotionalen Spanne die ganze Not und das persönliche Schicksal des Menschen wider.

Musik-Nr.: 10
Komponist: Claudio Monteverdi
Werk-Titel: La favola d'Orfeo
Auswahl: "Possente spirto" <CD 2, Tr. 3.4.> __:__
Interpreten: Anthony Rolfe Johnson (Orfeo)
John Tomlinson (Caronte)
The English Baroque Soloists
Ltg.: John Eliot Gardiner
Label: DG Archiv (LC ____)
419 250-2
<CD 2, Tr. 3.4.> Gesamt-Zeit: 13:45
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