Das galante Sachsen -

Musik in Dresden im 17. und 18. Jahrhundert

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Alte Musik kommentiert, 25.5.1993)

Musik-Nr.: 01
Komponist: Heinrich Schütz
Werk-Titel: Kleine geistliche Konzerte I (1636, op. 8)
Auswahl: Ihr Heiligen lobsinget (SWV 288) <Track 12.> 2:30
Interpreten: Sebastian Hennig (Knabensopran
René Jacobs (Altus)
Concerto vocale
Label: HMF (LC 7045)
90 1097
<Track 12.> Gesamt-Zeit: 2:30
Archiv-Nummer: ____

Als das Kurfürstentum Sachsen 1631 in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hineingezogen wurde, war dies für den Kurfürsten Johann Georg ein willkommener Anlaß, sich seiner allzu kostspieligen Hofkapelle zu entledigen. Vakante Stellen im Chor und Orchester blieben fortan unbesetzt, und die Gehälter wurden (wenn überhaupt) nur noch unregelmäßig ausgezahlt, so daß der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz sich zu einer Denkschrift an seinen Arbeitgeber genötigt sah. Unter anderem wies er darauf hin, daß ...

die Gesellschaft der Instrumentalisten und Sänger jetzt ziemlich schwach und verringert worden ist, indem etliche wegen Alters- und Leibesbeschwerung nicht mehr fortkommen könnten, teils auch dem Kriegswesen und sonst ihrer Gelegenheit nachgezogen. Daher ist in großer Musik oder auf viel Chor zu musizieren dermalen nicht möglich.

Argumente, die den Kurfürsten nicht sonderlich beeindruckten. Schlimmer noch: Johann Georg beklagte sich seinerseits darüber, daß man ihm schon seit geraumer Zeit immer wieder dieselbe Kirchenmusik vorspiele. Woraufhin Heinrich Schütz eine Reihe von "Kleinen geistlichen Konzerten" komponierte, mit der die verbliebenen Reste der kurfürstlich-sächsischen Kapelle sich künstlerisch über die Kriegsjahre retten konnten. Die Besetzung kommt notfalls mit fünf Gesangs-Solisten und einer einfachen Generalbaß-Begleitung aus. In der Widmungsrede zu den "Kleinen geistlichen Konzerten" schreibt Schütz:

Welcher Gestalt die löbliche Musik von den anhaltenden Kriegsläuften in unserm lieben Vaterlande nicht allein in großes Abnehmen gekommen, sondern an manchen Orten gar ganz niedergeleget worden, steht neben anderem allgemeinen Ruin vor jedermanns Augen. Unterdess' aber (damit mein von Gott verliehenes Talent in solcher Zeit nicht ganz ungenutzt liegen bleibt), habe ich einige kleine Konzerte aufsetzen und gleichsam als Vorboten meiner musikalischen Werke zur Ehre Gottes jetzt herausgeben wollen ...

Musik-Nr.: 02
Komponist: Heinrich Schütz
Werk-Titel: Kleine geistliche Konzerte I (1636, op. 8)
Auswahl: O lieber herre Gott (SWV 287) <Track 8.> 3:35
Interpreten: La Chapelle Royale
Ltg.: Philippe Herreweghe
Label: HMF (LC 7045)
90 1261
<Track 8.> Gesamt-Zeit: 3:35
Archiv-Nummer: ____
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Die finanziellen Mißstände, unter denen die kurfürstlich-sächsische Kapelle während des Dreißigjährigen Kriegs zu leiden hatte, besserten sich auch nach Kriegsende nicht - im Gegenteil: 1654 verfaßten die Musiker eine Petition an ihren Dienstherrn, den Kurfürsten Johann Georg, er möge doch bitte die ausstehenden Gehälter für die letzten zehn Jahre bezahlen. Und auch Schütz bat um seine Entlassung, da ...

ich nunmehro 71 Jahre alt und seit 38 Jahren im kurfürstlichen Dienst bin. Zumalen auch die kurfürstliche Kapelle itzo mit lauter jungen Leuten besetzet ist, unter welchen ich alter Greis mich nicht wohl rühme in Anbetracht, daß die Jugend gerne auf Erneuerung trachtet und das Altertum endlich mehr zu verkleinern als zu erheben geneigt ist.

Die Jugend - das war der damals knapp dreißigjährige Schütz-Schüler Christoph Bernhard und die italienischen Kapellmeister Bontempi und Albrici. Als Schütz dann 1672 verschied, war das Musikleben in Dresden bereits in einen künstlerischen Dornröschen-Schlaf gesunken: Unter dem neuen Kurfürsten Johann Georg dem Zweiten waren zwar seit 1657 die Ausgaben für die Musik wieder gestiegen, aber das meiste ging drauf für Operndekorationen und exorbitante Honorarforderungen der italienischen Sänger, ohne daß aus jenen Jahren irgendetwas von bleibendem Wert auf uns gekommen wäre.

Zu neuem Leben erwachte die Musik erst wieder Anfang des 18. Jahrhunderts, unter der Regentschaft August des Starken. Der Kurfürst war 1697 zum katholischen Glauben übergewechselt, um die polnische Königskrone erwerben zu können. Von nun an waren zwei Kirchenmusiken zu bestallen: zum einen die öffentlich-protestantische "Hofkirchenmusik" als Zugeständnis an die in Sachsen verbreitete Konfession und dann die katholische "Königlich Polnische und Kurfürstlich Sächsische Kapelle", die sich der besonderen Gunst und Zuwendung August des Starken erfreute.

Aber auch die sonstige Hofmusik erlebte in den folgenden Jahrzehnten einen Aufschwung. Im Dresdner Orchester versammelten sich die besten Musiker Europas. 1710 wurde Johann Dismas Zelenka als Kontrabaß-Spieler eingestellt; die Violin-Virtuosen Pisendel und Veracini teilten sich die Stelle des ersten Geigers; Buffardin und Johann Joachim Quantz spielten die Flöte; und der Lautenist Sylvius Leopold Weiss zeichnete sich als virtuoser und versierter Continuo-Spieler aus.Das Dresdener Orchesterwesen erlebte unter dem Hofkapellmeister Johann David Heinichen eine ungeahnte Blüte. Sie alle taten sich - wie Zelenka - nicht nur als Instrumentalisten hervor, sondern komponierten auch: dem Zeitgeschmack und ihren Fähigkeiten entsprechend und zugeschnitten auf die virtuosen Künste ihrer Kollegen.

Auch auswärtige Musiker wie Albinoni, Vivaldi, Fasch und Telemann (um nur die bedeutendsten zu nennen) widmeten ihre Concerti "per l'orchestra di Dresda", und auch Heinichens eigene Kompositionen beweisen, auf welch hohem Niveau an der Elbe musiziert wurde.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Johann David Heinichen
Werk-Titel: Concerto F-Dur (Seibel 232) <CD 2, Tr. 11.12.13.> 7:50
Interpreten: Musica antiqua Köln
Label: DGG Archiv (LC 0113)
437 549
<CD 2, Tr. 11.12.13.> Gesamt-Zeit: 7:50
Archiv-Nummer: ____
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Der Musiker gilt nicht im eigenen Land: Das mußten auch die Mitglieder des Dresdner Hoforchesters feststellen, als der Kronprinz Friedrich August II. 1717 von seiner Kavaliers-Tour durch Frankreich und Italien zurückkehrte. In Venedig hatte er eingekauft: als Kapellmeister Johann David Heinichen und Antonio Lotti, die Kastraten Senesino und Berselli, den Altisten Giuseppe Maria Boschi und den Geiger Veracini. Nun ließ sich auch in Dresden standesgemäß eine italienische Oper aufführen!

Während Zelenka und der Geiger Pisendel allenfalls 400 Taler im Jahr erhielten, konnten ihre italienischen Kollegen ohne Schwierigkeiten das Zehnfache und mehr fordern. Allein im Juni 1718 betrugen die Kosten für die italienische Oper über 45.000 Taler. Aber der Spaß dauerte nur zwei Jahre; denn dann kam es zum Eklat, wie der Flötist Johann Joachim Quantz berichtet:

Bei einer Opernprobe machte der Sänger Senesino einen ungeschliffenen Virtuosenstreich: Er zankte sich mit dem Kapellmeister Heinichen über eine Arie, wobei er ihm vorwarf, daß er wider die Worte und Melodie einen Fehler begangen habe. Senesino zerriß seine Noten und warf sie dem Kapellmeister vor die Füße. Das wurde dem König nach Polen berichtet. Und nach wenigen Tagen kam der Befehl zurück, daß alle italienischen Sänger abgedankt sein sollten.

Dem Kastraten Senesino sollte es nur recht sein, hatte er doch schon einen Vertrag mit Händel für dessen Londoner Opern-Unternehmen abgeschlossen. Und die deutschen Sänger waren sicherlich nicht traurig, daß die Konkurrenz abreisen mußte. An großartige Opernaufführungen war in Dresden für's Erste nicht zu denken. Dafür aber blühte das Dresdener Orchesterwesen.

Als der Dresdener Hofkomponist und Kapellmeister Johann David Heinichen 1729 starb, übernahm Jan Dismas Zelenka vertretungsweise das Amt. Seit 1710 stand Zelenka nun schon am Kontrabaß - immer noch für magere 300 Taler jährlich; nun sah er seine Chance der Beförderung gekommen, wenn er sein Können nur ins rechte Licht rückte. Und da der Katholik Zelenka ein frommer Mensch war (seine protestantischen Zeitgenossen hielten ihn allerdings eher für bigott), sah er seine Stärke in der Kirchenmusik. Als die Kurfürstin Maria Josepha ernstlich erkrankte, widmete er ihr eine Marien-Litanei, die den bezeichnenden Titel trägt: "Salus infirmorum" - "Du Heil der Kranken".

Musik-Nr.: 04
Komponist: Jan Dismas Zelenka
Werk-Titel: Litaniae Lauretanae
Auswahl: Virgo prudentissima - Salus infirmorum <Track 14.15.16.> 6:10
Interpreten: Nancy Argenta (Sopran)
Michael Chance (Altus)
Christoph Prégardien (Tenor)
Gordon Jones (Baß)
Kammerchor Stuttgart
Tafelmusik Baroque Orchestra
Ltg.: Frieder Bernius.
Label: dhm (LC 0761)
RD 77 922
<Track 14.15.16.> Gesamt-Zeit: 6:10
Archiv-Nummer: ____
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1733 schließlich bittet Johann Dismas Zelenka beim Kurfürsten um einen offiziellen Amtstitel - in der Hoffnung, daß dies gleichzeitig auch eine Gehaltserhöhung mit sich bringt:

Vor den Füßen Eurer Königlichen Majestät wirft dero alluntertänigster Knecht sich in allertiefster Submission nieder, weil die äußerste Not ihn gleichsam dazu zwinget. Nach des Kapellmeister Heinichen Absterben habe ich die Königliche Kirchenmusik viele Jahre mitversorgt und dieselbe meistens allein komponieret und dirgieret. So flehe ich hiermit fußfälligst an, die von mir bisher verwaltete Kapellmeisterstelle allergnädigst zu konzedieren und auch einen Teil zu meiner bisherigen Besoldung allermildest beizulegen.

Des Kurfürsten Antwort war knapp:

Soll sich gedulden, weil von den Geldern bereits disponiret.

Später erhielt Zelenka - damit er Ruhe gab und unter der Bedingung, daß er fürderhin keine weiteren finanziellen Forderungen erhebt - den nichtssagenden Titel eines "Hofkirchen-Compositeurs". Aber hätte der Kurfürst einen Kirchenmusiker zum Leiter der Hofmusik machen sollen? Wo ihm doch mehr der Sinn nach italienischer Oper stand!

Und ähnlich verhielt es sich mit einer anderen Bewerbung um das vakante Amt eines kurfürstlich-sächsischen Hofkapellmeisters: Johann Sebastian Bach in Leipzig hatte sich zwar nicht explizit beworben, aber was war davon zu halten, wenn ein überzeugter protestantischer Kirchenmusiker einem katholischen Landesfürsten das Kyrie und Credo einer lateinischen Messe widmete?

Musik-Nr.: 05
Komponist: Johann Sebastian Bach
Werk-Titel: Messe in h-moll
Auswahl: Gloria in excellis Deo
Et in terra pax
<CD 1, Tr. 4.5.> 5:40
Interpreten: Taverner Consort
Taverner Players
Ltg.: Andrew Parrott
Label: EMI (LC 0542)
CDS 7 47 293 8
<CD 1, Tr. 4.5.> Gesamt-Zeit: 5:40
Archiv-Nummer: ____
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Daß weder Zelenka noch Johann Sebastian Bach in Dresden zum Zuge kamen, hat seinen Grund wohl darin, daß August der Starke und sein Sohn keinen sonderlichen Wert auf die Kirchenmusik legten, sondern vielmehr darauf sahen, womit man in der politischen Öffentlichkeit repräsentieren konnte - und da war im 18. Jahrhundert die italienische Oper weitaus besser geeignet.

Wahrscheinlich war die Entscheidung damals auch schon gefallen. Denn bereits im Sommer 1731 hatte der Komponist Johann Adolf Hasse mit seiner Frau, der berühmten Sängerin Faustina Bordoni, in Dresden ein Gastspiel gegeben und dort seine Oper "Cleofide" zur Aufführung gebracht. Wie für Dresden üblich, waren die finanziellen Aufwendungen immens: Die Kostüme und Dekorationen mußten in Venedig und Nünberg angefertigt werden, da in Dresden angeblich niemand in der Lage war, derartiges zu schaffen. 11.000 Taler kostete allein die Ausstattung; die Primadonna Faustina Bordoni erhielt 2.000 Taler, während der Komponist Hasse mit gerade 'mal 500 Talern abgespeist wurde - derart waren die Einkommens-Verhältnisse im 18. Jahrhundert.

1734 dann trat Hasse sein Amt als Hof-Kapellmeister und Hof-Compositeur an - für annähernd drei Jahrzehnte. Unter seiner Leitung wurde aus dem einstmals autonomen Virtuosenorchester ein nicht minder angesehenes Opernensemble. Selbst Johann Sebastian Bach kam des öfteren mit seinem Sohn Wilhelm Friedemann aus Leipzig nach Dresden gereist, um (wie er sagte) "die schönen Dresdner Liederchen" zu hören.

Aber dann ereilte zu guter Letzt auch den berühmten Johann Adolf Hasse das Schicksal vieler seiner Kollegen. 1763, als Friedrich August II. gestorben war und die Staatsverschuldung sich als unermeßlich herausstellte, wurden auch Johann Adolf Hasse und seine Frau kurzerhand aus dem Hofdienst entlassen - ohne Pension und ohne Auszahlung der noch ausstehenden Bezüge, die sich mittlerweile auf 30.000 Taler beliefen. Der Ruhm von Hasses erster Dresdner Oper "Cleofide" hatte sich zwar lange gehalten, aber auch in Dresden ging die Staatsraison vor der Kunst. Wie singen Poro und Cleofide am Ende des ersten Akts?

Für wen verliere ich, gerechte Götter,
die Ruhe meiner Lebenstage?
Für wen habe ich nur mein Herz bis jetzt bewahrt?
Ach! Sterben will ich
und nie wieder um diesen Undankbaren seufzen!

Musik-Nr.: 06
Komponist: Johann Adolf Hasse
Werk-Titel: Cleofide
Auswahl: 1. Akt, Nr. 29 (Duett) <CD 2, Tr. 14.> 5:30
Interpreten: Emma Kirkby (Cleofide)
Derek Lee Ragin (Poro)
Cappella Coloniensis
Ltg.: William Christie
Label: Cap (LC 8748)
10 193/96
<CD 2, Tr. 14.> Gesamt-Zeit: 5:30
Archiv-Nummer: ____
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