Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Alte Musik kommentiert, 24.5.1994)
Musik-Nr.: | 01 | |||
Komponist: | Francesco Landini | |||
Werk-Titel: | Ecco la primavera | |||
Interpreten: | Early Music Consort of London Ltg.: David Munrow |
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Label: | Dec (LC 0171) 436 219-2 |
<Track 1.> | Gesamt-Zeit: | 1:10 |
Archiv-Nummer: | 8i-E001 |
Können wir uns eigentlich noch vorstellen, welche Bedeutung der Frühling für die Menschen damals, im Mittelalter und in der Renaissance, gehabt hat? - Wohl kaum, da wir es auch verlernt haben, den Winter als eine bedrohliche Jahreszeit zu empfinden: Wenn es kalt wird, drehen wir die Heizung hoch, frisches Gemüse beziehen wir aus dem Supermarkt, gegen Erkältungen nehmen wir Vitamin C, und sobald die grauen Novembertage anbrechen, schalten wir einfach das Licht ein. Der Winter bedeutet für uns keine existentielle Bedrohung mehr, und entsprechend ist auch der Frühling heutzutage zu einem bloßen Lifestyle-Gefühl degeneriert: mit Bistro-Tischen auf dem Bürgersteig, Cabriolets auf den Straßen, und überall werden die neuesten Modefarben vorgeführt.
Daß es früher, vor 300 oder 400 Jahren, besser war, wird niemand ernstlich behaupten wollen. Aber zumindest das Gefühl für den Wechsel der Jahreszeiten war damals wahrscheinlich intensiver. Mit Beginn des Frühlings setzte auch das geschäftige Treiben wieder ein: Die Bauern bestellten ihre Felder, und die Kaufleute unternahmen ihre alljährlichen Handelsreisen. Der Überlebenskampf gegen die Unbilden der Natur erschien nicht mehr ganz so grausam wie in den harten Wintermonaten. Je strenger der Winter war, desto freudiger wurden die ersten lauen Tage im Mai besungen. Und bald schon waren Hunger und Kälte vergessen und machten lustvolleren Gefühlen Platz.
Oswald von Wolkenstein, der die Wintermonate fernab vom Weltgeschehen auf seiner Burg im Grödnertal verbrachte, entfaltet in seinem Maienlied ein regelrecht surrealistisches Lautgemälde: Zaunkönig, Zeisig, Lerche und Meise kommen da zu Wort, ein Rabe krächzt, eine Bäuerin treibt ihren Esel an, der aber nur ein störrisches I-A herausbringt - und dazwischen Oswald, der das Lärmen nach der Ruhe des Winters begierig in sich aufsaugt:
Musik-Nr.: | 02 | |||
Komponist: | Oswald von Wolkenstein | |||
Werk-Titel: | Der mai mit lieber zal | |||
Interpreten: | Studio der Frühen Musik Ltg.: Thomas Binkley |
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Label: | EMI (LC 0110) 7 63069 2 |
<Track 6.> | Gesamt-Zeit: | 2:40 |
Archiv-Nummer: | 8i-S018 |
Daß ein Dichter zu Beginn des 15. Jahrhunderts sich ganz ohne Hintergedanken der Naturbetrachtung hingibt, ist ungewöhnlich. Den meisten Dichtern des Mittelalters und der beginnenden Renaissance diente die Natur, und vor allem das Frühlingserwachen, lediglich als dekorative Folie, vor deren Hintergrund man trefflich das eigene Gefühlsleben darstellen konnte.
Die Frühlingslieder des Minnesängers Neidhart von Reuenthal lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Maienzeit ist stets auch Balz-Zeit; und je schneller und öfter "Mann" ans Ziel gelangt, desto besser! Wie die Frauen damals, gegen Ende des 12. Jahrhunderts, darüber dachten, darüber verliert dieser bedeutende Dichter des deutschen Mittelalters kein Wort.
Musik-Nr.: | 03 | |||
Komponist: | Neidhart von Reuenthal | |||
Werk-Titel: | Vreut euch wol gemuten kind | |||
Interpreten: | Ensemble für Frühe Musik Augsburg | |||
Label: | Chr (LC 0612) CD 77108 |
<Track 11.> | Gesamt-Zeit: | 3:55 |
Archiv-Nummer: | 8i-E009 |
Eines der populärsten Liebesgedichte aus jener Zeit ist das "Tanderadei" unter der Linden, das Walther von der Vogelweide vor knapp 800 Jahren gedichtet hat. Auch Walther läßt an der erotisch-sexuellen Erfüllung keinen Zweifel, aber wie anders klingt seine subtil zärtliche Schilderung (bzw. Nicht-Schilderung!), was dort "unter der Linden" sich ereignete, wenn die Geliebte singt:
Daß er bei mir lag,
wüßte das jemand (behüte Gott!),
so schämt ich mich. Was er mir tat,
darf niemals jemand wissen als er und ich
und ein kleines Vögelein -
das wird wohl verschwiegen sein.
Musik-Nr.: | 04 | |||
Komponist: | Walther von der Vogelweide | |||
Werk-Titel: | Under der linden an der heide | |||
Interpreten: | Studio der Frühen Musik Ltg.: Thomas Binkley |
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Label: | Tel (LC 3706) 8.44015 |
<Track 2.> | Gesamt-Zeit: | 3:20 |
Archiv-Nummer: | 8i-S019 |
Während Neidhart und Walther von der Vogelweide vor allem vom erfüllten Liebesglück zur Frühlingszeit singen, hat der italienische Komponist des folgenden Trecento-Madrigals weniger Erfolg. Angesichts der Lerchen, die in den Lüften singen, und der duftenden Blumen und Wiesen sind auch bei ihm die Frühlingsgefühle erwacht. Aber die Schäferin, die er zu verführen trachtet, hat für seine Liebssehnen nichts übrig; sie zeigt ihm die kalte Schulter, und schlimmer noch: Sie schlägt ihm schließlich, als er zu aufdringlich wird, ihre Spinn-Utensilien um die Ohren.
Musik-Nr.: | 05 | |||
Komponist: | unbekannt | |||
Werk-Titel: | Quando i oselli canta | |||
Interpreten: | Gothic Voices Ltg.: Christopher Page |
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Label: | Hyp (LC ____) 661286 |
<Track 3.> | Gesamt-Zeit: | 1:55 |
Archiv-Nummer: | 8i-G001 |
So resolut sich die Schäferin des soeben gehörten Madrigals gegen ihren Verehrer zur Wehr setzt, so leichtherzig benimmt sich die Schäferin der folgenden Pastourelle aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Als der Komponist Jean Erard zur Maienzeit in einem Park lustwandelt, stößt er auf ein junges Mädchen, das sich von ihrem Dudelsack spielenden Liebhaber vernachläßigt fühlt. Der Dichter unternimmt einen vorsichtigen Annäherungsversuch und hat bald schon Erfolg:
Da umarmte ich sie,
und sie wußte es mir wohl zu vergelten.
Wisset, daß ich sie süß fand beim ersten Liebespiel.
Zu herzen und zu kosen nahm sie keinen Anstoß.
Ihren süßen kleinen Mund fühlte ich und ihre junge Brust.
Aber bevor wir uns umarmten,
rief sie spöttisch zu ihrem Geliebten hin:
"Da geht der Narr und spielt auf seinem Dudelsack".
Musik-Nr.: | 06 | |||
Komponist: | Jean Erart | |||
Werk-Titel: | Par un tres bel jour de mai | |||
Interpreten: | Ensemble für Frühe Musik Augsburg | |||
Label: | Chr (LC 0612) CD 77117 |
<Track 10.> | Gesamt-Zeit: | 4:55 |
Archiv-Nummer: | 8i-E010 |
Für den einen bedeutet das "Frühlingserwachen" Liebesfreud' und lustvolle Erfüllung, für den anderen ist es mit Leid verbunden. In einem seiner Lieder beschreibt der italienische Troubadour Sordel seinen Liebesschmerz, als die angebetete und erwählte Dame sich ausgerechnet in der schönsten Jahreszeit sich von ihm abwendet.
Jetzt, da sich der Sommer erneut anschickt, sich mit Blumen und Blättern zu schmücken, muß ich davon singen, daß meine erwählte Dame sich einem anderen zugewandt hat. Aber auch, wenn es mich schmerzt, werde ich weiter singen, in der Hoffnung, daß sie micht hört. Ich werde sterben, wenn sie mir nicht ihre Liebe gewährt, und ich weiß keinen Ort, wohin ich mich wenden könnte. Aber ich will lieber sterben, als noch einen Sommer ohne Trost zu leben. Denn schlimmer als zu sterben, ist es, zu leben und die Geliebte nicht sehen zu dürfen.
Musik-Nr.: | 07 | |||
Komponist: | Sordello di Mantova | |||
Werk-Titel: | Er, quan renovella e gensa | |||
Interpreten: | Camerata mediterranea, Ltg.: Joel Cohen | |||
Label: | Erato (LC 0200) 2292-45647-2 |
<Track 5.> | Gesamt-Zeit: | 4:30 |
Archiv-Nummer: | 8i-C004 |
Nicht besser als dem Troubadour Sordello aus Mantua erging es seinem südfranzösischen Kollegen Raimbaud de Vaqueiras, der ebenfalls im schönen Monat Mai darüber klagte, daß seine geliebte Dame sich von ihm abgewandt hatte. Doch sollte man solche Klagen nicht allzu ernst nehmen. Jeder Troubadour, der auf sich hielt, mußte eine unglückliche Liebe vorweisen können. Und manch einer, der in glücklichen Verhältnissen lebte, erfand einfach einen amourösen Schicksalsschlag. Auch Raimbauds Liebeshändel scheinen eher literarischer Natur gewesen zu sein. Eine Begebenheit ist jedoch urkundlich belegt. In einer zeitgenössischen Biographie heißt es:
Es geschah nämlich, daß der Markgraf von Montferrat seine Ehefrau und Raimbaud zusammen im Schlaf überraschte. Aufgebracht wie er war, hatte er jedoch Geistesgegenwart genug, sie nicht aufzuwecken, sondern er nahm nur seinen Mantel, bedeckte die Liebenden und ergriff stattdessen den Mantel des Dichters. Am nächsten Morgen erschien Raimbaud bei dem Markgrafen und bat ihn demütig um Vergebung. Der Markgraf, der kein Aufsehen wollte, sagte ihm, er verzeihe die Verwechslung, doch dürfe so etwas nie wiede vorkommen. Alle Anwesenden bezogen dies auf den Mantel und keiner ahnte die wahre Bedeutung der Worte. Dennoch fühlte Raimbaut sich genötigt, den Hof von Montferrat und seine Geliebte zu verlassen ...
Musik-Nr.: | 07 | |||
Komponist: | Raimbaut de Vaqueiras | |||
Werk-Titel: | Kalenda maya | |||
Interpreten: | Sinfonye Ltg.: Stevie Wishart |
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Label: | Hyp (LC ____) 66367 |
<Track 2.> | Gesamt-Zeit: | 5:55 |
Archiv-Nummer: | 8i-S004 |