Der Pianist Ferruccio Busoni (1866-1924)

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Deutschlandfunk, Köln
(Sendung: 5.4.1992 - "Historische Aufnahmen")

Exposé

Seine eigenen Kompositionen klingen so modern und strukturalistisch, als habe er die Moderne Musik vorwegnehmen wollen. Im Konzertsaal spielte er mit Vorliebe Bach, Mozart und Beethoven - zu einer Zeit, als das Publikum allenfalls virtuosen Tastendonner und Fingerakrobatik zu schätzen wußte. Er setzte sich für Werktreue ein und war gleichzeitig ein genialer Bearbeiter. Der Deutsch-Italiener Ferruccio Busoni (1866-1924) paßt in keines der gängigen Klischees. Als zu Anfang des Jahrhunderts die Reproduktionsklaviere und die Schallplatte erfunden wurden, verkündete er den Anbruch eines neuen musikalischen Zeitalters und weigerte sich, seine Lieblingskomponisten in aufnahmegerechte Vierminuten-Häppchen zu zerstückeln. Eingespielt hat er stattdessen Liszt, Chopin und seine eigene Bearbeitung der Violin-Chaconne von Bach.

Sendemanuskript
Musik-Nr.: 01
Komponist: Frédéric Chopin
Werk-Titel: Prélude op. 28 Nr. 10
Interpreten: Ferruccio Busoni (Klavier)
Label: Foné (LC ____)
90 F 13 CD
<Track 14.> Gesamt-Zeit: 0:30
Archiv-Nummer: ____

Sein erstes öffentliches Konzert gab er 1873 mit sieben Jahren in Triest. Der Musikkritiker des Triester Lokalblattes schrieb damals überschwenglich von einem "neuen Stern, der am Pianisten-Himmel aufgegangen sei; ein Name, den man sich für die Zukunft merken müsse ..." - Nun denn: Wunderkinder kommen und gehen; und die wenigsten, die in jungen Jahren gefeiert werden, machen auch im Erwachsenen-Alter noch von sich reden. In diesem Falle aber sollte der Musikkritiker recht behalten: Ferruccio Busoni wurde zu einem der ganz großen Pianisten, der nicht nur sein Instrument beherrschte, sondern auch die heutige Auffassung von "Klavierspiel" entscheidend mitprägte.

Geboren wurde Ferruccio Busoni in der Nähe von Florenz - als Sohn des Klarinetten-Virtuosen Ferdinando Busoni und einer deutsch-stämmigen Pianistin. Von den Eltern erhielt er auch den ersten Musikunterricht, bis der Komponist Anton Rubinstein den Jungen hörte und ihm vorschlug, er solle an einem der österreichischen Konservatorien weiter studieren.

Die nächsten Stationen seiner Ausbildung waren Graz, Wien, Leipzig und Berlin. Italien ließ Busoni hinter sich zurück - auch innerlich. Er fühlte sich nie der italienischen Musiktradition verbunden, sondern sprach deutsch, dachte deutsch - und musizierte letztlich auch deutsch: Nicht der äußerliche melodische Effekt war ihm wichtig, sondern der strukturelle Aufbau der Musik, die große Form. Mit Vorliebe spielte er Beethoven (die großen Sonaten) und setzte - zum Schrecken des damaligen Publikums - Bachs "Wohltemperiertes Klavier" aufs Konzertprogramm.

Einen eigentlichen Lehrer hat er nie gehabt - behauptete Busoni zumindest: in künstlerischer Hinsicht sei er Autodidakt gewesen. Will man sein Klavierspiel beschreiben (soweit dies noch rekonstruierbar ist), so fällt vor allem die rhythmische Klarheit auf. Busoni hielt nicht viel davon, die Tempi nach Gutdünken zu verzögern und die musikalische Struktur durch übermäßiges "Rubato" aufzuweichen. Was wiederum die Zeitgenossen sehr befremdete - vor allem, wenn es um seine Chopin-Interpretationen ging. Der Vorwurf der Kritiker lautete immer wieder, Busoni sei ein Technokrat und sein Spiel wirke asketisch-kalt und leblos. - Für damalige Ohren und den Musikgeschmack des 19. Jahrhunderts mag das zutreffen. Aber genau diese Sachlichkeit, diese unbestechliche Distanz ist es, die Busonis Interpretationen heute noch so aktuell erscheinen läßt.

Musik-Nr.: 02
Komponist: Frédéric Chopin
Werk-Titel: Prélude Des-Dur, op. 28 Nr. 15 ("Regentropfen")
Interpreten: Ferruccio Busoni (Klavier)
Label: Tel (LC 3706)
8.43930
<Track 2.> Gesamt-Zeit: 6:00
Archiv-Nummer: ____

Ferruccio Busoni war 41 Jahre alt, als die ersten Erfindungen auf den Markt kamen, die das Klavierspiel großer Virtuosen konservierten, um es später wieder zum Klingen zu bringen. Für die selbsttätig spielenden "Reproduktions-Klaviere" hat Busoni etliche Klavierrollen eingespielt - mit hochwertigen Interpretationen. Mit den Schallplattenaufnahmen jedoch konnte er sich nicht anfreunden: Maximal vier Minuten durfte eine Seite dauern. Bei längeren Kompositionen mußte gestrichen werden oder man mußte an geeigneten Stellen Kadenzen einschieben zum Plattenwechseln. In einem Brief an seine Frau schilderte er die Qualen der Aufnahme-Sitzungen so:

Da heißt es kürzen, zusammenflicken, improvisieren, daß doch noch ein wenig vom ursprünglichen Sinn erhalten bleibt; auf's Pedal aufpassen (weil das verschwommen klingt); daran denken, daß bestimmte Töne lauter oder leiser zu spielen sind, damit sie der teuflischen Maschine auch nur genehm sind; und niemals die Selbstkontrolle verlieren! Denn jede gespielte Note wird der Ewigkeit erhalten beiben. Wie kann da noch die Rede sein von Inspiration, Freiheit, Schwung oder Poesie?

So klingen denn Busonis halb Dutzend Schellack-Aufnahmen auch wenig überzeugend - im Gegensatz zu den Klavierrollen-Einspielungen, wo es möglich war, eventuelle Fehler auch nachträglich noch zu korrigieren. Indes - an sein eigentliches Konzert-Repertoire traute er sich im Aufnahme-Studio offensichtlich nicht heran: Es gibt keine Beethoven-Sonate mit ihm, keinen Mozart, Bach nur in Bearbeitungen; dafür aber jede Menge virtuoser Taschenspielereien wie die "Campanella"-Etüde von Franz Liszt:
Musik-Nr.: 03
Komponist: Franz Liszt
Werk-Titel: Etüde Nr. 3 gis-moll ("La Campanella")
Interpreten: Ferruccio Busoni (Klavier)
Label: Teldec (LC 3706)
8.43931
<Track 2.> Gesamt-Zeit: 4:45
Archiv-Nummer: ____

So meisterhaft Ferruccio Busoni den oberflächlich-virtuosen Ansprüchen gerecht wurde, so wurde er doch vor allem wegen seiner Interpretation der großen Werke bewundert. Seine Liebe galt Beethovens "Hammerklavier-Sonate", den "Diabelli-Variationen", der Liszt'schen h-moll-Sonate und den "Goldberg-Variationen" von Bach. - Wie er selbst es formulierte:

Bach ist das Fundament des Klavierspiels, Liszt der Gipfel; beide machen Beethoven möglich.

Über Busonis Bach-Auffassung läßt sich trefflich streiten. Zwar forderte er, der Interpret dürfe nichts weiter als die Idee des Komponisten zum Klingen bringen. Aber was die Idee des Komponisten ist, da hatte Busoni ganz eigene Vorstellungen. Im Falle "Bach" griff er ganz massiv in den Notentext ein: mit Oktav-Verdopplungen und akkordischen Füll-Tönen, mit romantischer Dynamik und exzessivem Pedal-Gebrauch - gemäß seiner Devise:

Wenn Bach die Möglichkeiten des modernen Klaviers gekannte hätte, er hätte seine Musik in meinem Sinne umgeschrieben!

Eine sehr selbstbewußte Einschätzung eines Interpreten, der sich mittlerweile auch als Komponist eine Namen gemacht hatte. Busonis Bearbeitungen der Bach'schen Choralvorspiele bilden noch heute einen festen Bestandteil - zumindest des Zugaben-Repertoires. Und bisweilen ist auch seine Klavier-Bearbeitung von Bachs Violin-Chaconne noch in Konzerten zu hören. - Hier nun ein Ausschnitt aus einer Klavierrollen-Einspielung, die wenige Wochen vor Busonis Tod im Juni 1924 entstanden ist.

Musik-Nr.: xx
Komponist: Johann Sebastian Bach (Bearb.: F. Busoni)
Werk-Titel: Chaconne (aus der Sonate d-moll für Violine solo)
Interpreten: Ferruccio Busoni (Klavier)
Label: Foné (LC ____)
90 F 13 CD
<Track 1.> Gesamt-Zeit: 13:30
Archiv-Nummer: ____
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