Der letzte Romantiker -
der Pianist Alfred Cortot

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Deutschlandfunk, Köln (Historische Aufnahmen)

Musik 001:

Schumann: op. 2 (Ausschnitt)
Biddulph LHW 003 <Tr. 1-4>
[Dauer: 2'45]

Es ist fraglich, ob ein Pianist wie Alfred Cortot heutzutage überhaupt eine Chance hätte, an einer der Musikhochschulen sein Konzertexamen zu bestehen. Technische Perfektion und absolute Korrektheit gegenüber dem Notentext sind mittlerweile unabdingbare Voraussetzung, aber genau dies ist es, was den Pianisten früherer Generationen eher nebensächlich erschien. Virtuosität, wie sie auch Cortot (oder sein Vorbild Paderewski) pflegten, beinhaltete etwas anderes: Anschlagskultur und Klangzauber im Pianissimo sowie die Fähigkeit, weite musikalische Bögen zu gestalten und damit den Hörer in den Bann zu ziehen. Kleinlich, wer da falsche Töne oder Akkorde zählen wollte, wer baßlastige Oktav-Verdopplungen moniert oder mit der Stopuhr akribisch die Temposchwankungen bei halsbrecherischen Passagen auflistet.

Musik 002:

Chopin: op. 25,11
EMI (LC 6646) 7 67359 2 <CD 3, Tr. 24>
[Dauer: 3'30]

Cortots pianistische Laufbahn war alles andere als geradlinig. 1877 in Nyon bei Genf geboren, fiel er schon früh wegen seiner musikalischen Neigungen auf. Seinen ersten öffentlichen Klavierauftritt im Alter von acht Jahren hat er selbst als Kuriosum abgetan; allerdings sei es schon damals sein Traum gewesen, einmal als Dirigent vor einem Orchester zu stehen. Und so drängte er denn auch darauf, als er wenige Jahre am Pariser Musikkonservatorium angenommen wurde, daß er nicht nur eine pianistische Ausbildung erhielt, sondern auch aktiv an den Dirigierklassen teilnehmen durfte.

Vor allem verehrte Cortot die Werke Richard Wagners. Gemeinsam mit seinem Freund Edouard Rizler und unter Mitwirkung einiger engagierter Sänger veranstaltete er in Paris Aufführungen von Wagner-Opern, wobei anstelle eines Orchesters Cortot und Rizler den Klavierauszug spielten. Diese Aufführungen fanden immerhin soviel Beachtung, daß Cortot 1897 als Korrepetitor zu den Bayreuther Festspielen eingeladen und von Hans Richter und Felix Mottl in die Finessen der Bayreuther Tradition eingeführt wurde. Wieder nach Paris zurückgekehrt, versuchte sich Cortot an einem ehrzgeizigen Opernprojekt: Aus eigener Tasche finanzierte er ein Orchester, um den "Tristan" und die "Götterdämmerung" dem Pariser Publikum nahezubringen. Die französische Erstaufführung der "Götterdämmerung" war ein künstlerischer Erfolg, wie ihn sich niemand erträumt hatte (Cosima Wagner war voller Bewunderung für den jungen Franzosen), das Unternehmen endete jedoch mit einem erheblichen Defizit, so daß der Dirigent Cortot gezwungen war, als Pianist auf Tournee zu gehen, um seine Schulden abzuspielen. Dies also war, wie Cortot es immer gerne zum Besten gab, der eigentliche Beginn seiner Pianisten-Karriere.

Dem Dirigentenberuf hatte er jedoch nie gänzlich abgeschworen: Von 1904 an leitete er die Konzerte der "Sociéte nationale" in Paris, wenig später übernahm er die "Concerts populaires" in Lille und das "Orchestre symphonique de Paris". Von 1929 stammt eine Schallplattenaufnahme mit dem Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester von Johannes Brahms. Alfred Cortot dirigiert hier das "Orquesta Pablo Casals"; die Solisten sind Jacques Thibaud (Violine) und Pablo Casals (Violoncello), mit denen Cortot lange Zeit auch die Kunst des Klaviertrios pflegte. Hier nun ein Ausschnitt aus dem ersten Satz.

Musik 003:

Brahms: op. 102 (Ausschnitt)
EMI (LC 6646) 7 64057 2 <CD 3, Tr. 7> [Dauer: _'__]

So sehr Alfred Cortot es liebte, am Dirigentenpult zu stehen, so wenig ist dieser Bereich auf Tondokumenten greifbar. Vor allem seine Auffassung der Wagner-Opern wäre sicherlich aufschlußreich gewesen. Als Pianist hat Cortot sich dann mit einem ganz anderen, geradezu gegensätzlichen Repertoire einen Namen gemacht - mit dem Œuvre von Frédéric Chopin. Man hat ihn gelegentlich den "letzten Romantiker am Klavier" genannt. Und in der Tat: Für Cortot scheint es keine Musik ohne die Assoziation von Bildern zu geben - wobei ihm ausschließlich an der eigenen Imagination gelegen ist. Cortot müht sich gar nicht erst um den historisch wahren Sinn einer Komposition. Der geschriebene Notentext ist ihm eine willkommene Gelegenheit, sich selbst auszudrücken. Was zählt, ist die subjektive Vision des Interpreten - oder, wie er es einmal formuliert hat: "der heiße Atem des Sprechenden".

Bisweilen steht man fassungslos vor diesem Mut zur Vergewaltigung dessen, was wir als die "wahren Absichten des Komponisten" vermuten. Und es macht in solchen Momenten dann kaum mehr Sinn, Cortots Spiel mit der Handschrift des Komponisten zu konfrontieren. Die Maßlosigkeit von Cortots "Rubato" etwa verurteilt jeden Versuch dieser Art zum Scheitern. Von einem "Rubato", einer zeitweiligen Änderung des Tempos, ließe sich sprechen, wenn das Grundmetrum feststünde. Bei Cortot jedoch ist alles im Fluß: Jeder Takt hat seine eigene Dramaturgie, jede Phrase ihren eigenen Atem. - Hören Sie nun in einer späten Aufnahme von 1951 das cis-moll-Nocturne op. 27, Nr. 1 von Frédéric Chopin.

Musik 004:

Chopin: op. 27,1
EMI (LC 6646) 7 67359 2 <CD 6, Tr. 17>
[Dauer: 4'30]

Der Nachwelt ist Cortot vornehmlich als Chopin-Spieler im Gedächtnis geblieben. Und sicherlich sind seine Chopin-Interpretationen in ihrer subjektiven Leidenschaft das Eindrucksvollste, was Cortot hinterlassen hat. Aber man würde ihm Unrecht tun, wollte man seinem pianistischen Wirken auf dieses Solisten-Repertoire reduzieren. So sehr Cortot es genoß, die emotionalen Räume eines Werkes auszuloten, ohne Rücksicht zu nehmen auf all das, was der eigenen Empfindung Zügel anlegen könnte, so sehr war er auch in der Lage, sich einzuordnen, wenn es um Kammermusik ging.

Zusammen mit dem Geiger Jacques Thibaud und dem Cellisten Pablo Casals gründete er 1905 ein Klaviertrio, das seinerzeit veil Beachtung fand. Wie es zu dieser illustren Besetzung kam? Cortot gab seinen sportlichen Aktivitäten die Schuld: Man traf sich in Fontainebleau eher zufällig beim Tennisspielen und als die Dunkelheit anbrach, setzte man das Match auf musikalische Weise fort. Etwas, das heutzutage kaum vorstellbar ist: daß drei Musiker, anstatt sich mit ihren Instrumenten zu beschäftigen, auf dem Tennisplatz leichtffertig ihre Muskeln aufs Spiel setzen. Indes: dem Trio Cortot - Thibaud - Casals taten solche Aktivitäten keinen Abbruch; im Gegenteil: Auch heute noch atmen die Kammermusikaufnahmen der Drei, die Ende der zwanziger Jahre entstanden, eine Frische, wie man sie sich im heutigen Musikbetrieb öfters wünschen würde.

Musik 005:

Mendelssohn: op. 49 (3. Satz)
EMI (LC 6646) 7 64057 2 <CD 2, Tr. 3>
[Dauer: 4'00]

Das Klaviertrio Cortot - Thibaud - Casals hielt leider den politischen Weltläuften nicht stand. Während des Zweiten Weltkriegs kam es zum Bruch zwischen Casals und Cortot, weil Cortot es gewagt hatte, in Berlin unter Furtwängler das Schumann-Konzert zu spielen. Für den Antifaschisten Casals war Cortots Auftritt ein Verrat an der Musik und an der Menschheit, Cortot hingegen verband damit die Hoffnung, trotz der Kriegswirren für eine Verständigung beider Völker vermittelst der Musik eintreten zu können.

Auch in dieser Hinsicht ist Cortot ein unverbesserlicher Romantiker gewesen, ein Künstler, der von einer besseren Welt mit Hilfe der Musik träumt. Romantiker war er aber auch in seinem Anspruch, sich selbst und der Kunst keine Grenzen zu setzen. Mit Begeisterung stellte er sich immer wieder ans Dirigentpult. Seine Unterrichtsstunden am Pariser Konservatorium waren bei den Studenten gleichermaßen beliebt wie geffürchtet wegen der Leidenschaft, mit der Cortot Aspekte der Klaviertechnik und des musikalischen Ausdrucks behandelte. Und seine instruktiven Notenausgaben der Chopin-Etüden und der Schumann-Zyklen sind heute noch aufschlußreich für jeden, der sich mit diesen Werken am Instrument auseinandersetzt. - Selbst was das Repertoire anbelangt, hat sich Cortot kaum Beschränkungen unterworfen. Von Purcell bis Ravel gab es keinen Komponisten, dem Cortot seine Zuneigung entzogen hätte - mit einer Einschränkung allerdings: Strawinskys These, daß das Klavier ein Schlaginstrument sei und dementsprechend behandelt werden müsse, empfand Cortot als barbarisches Greuel. Klangzauber - das war es, was er auf dem Klavier entfalten wollte, und dies ist ihm auch gelungen. Hier nun zum Abschluß der historischen Aufnahmen der erste Satz aus Maurice Ravels Sonatine, die Alfred Cortot 1927 eingespielt hat.

Musik 006:

Ravel: Sonatine (1. Satz)
Biddulph LHW 006 <Tr. 25>
[Dauer: 4'00]

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