Dieser Text ist entstanden als Beitrag für:
Bibliothek der Meisterwerke -
Sinfonien, Konzerte, Ouvertüren.
Köln, Naumann & Göbel, S. 38-39
Die Musik aus den streng dogmatischen Systemen der Theoretiker befreien - auf diesen Nenner lassen sich fast alle Kompositionen Berios zurückführen. Seinen ersten Musikunterricht erhielt Berio von seinem Vater, einem Kirchenmusiker, für den Orgelspielen und Komponieren zu den alltäglichen Verrichtungen des Lebens gehörten. Diese "handwerkliche" Einstellung zur Musik hat Berio gleichsam verinnerlicht und für die Belange der Neuen Musik weiter ausgebaut.
Schon in den fünfziger Jahren, als er sich (wie damals üblich) der seriellen Kompositionstechniken bediente, hielt er den musiktheoretischen Überbau und das Regelwerk für nebensächlich; im Vordergrund stellt Berio das sinnlich erfahrbare Klangereignis:
Kompositionsregeln sind dazu geschaffen, daß sie jederzeit umgestoßen werden, wenn die Musik es erfordert.
Eine Komposition ist für Berio kein fertiges, unantastbares Produkt, sondern fordert immer wieder zur Veränderung heraus - für andere Besetzungen und für neue musikalische Zusammenhänge. Diese freie Verfügbarkeit nimmt Berio nicht nur für die eigenen Werke in Anspruch, sondern auch für die Musik der Vergangenheit. Das musikalische Zitat ist ein wesentliches Stilmittel seiner Arbeit. Berio greift damit auf alte Bearbeitungspraktiken zurück, die vom Mittelalter bis zum Barock üblich waren und in der Trivialmusik noch bis ins 19. Jahrhundert überlebten.
Von 1953 bis 1959 leitete Berio das elektronische Studio des Italienischen Rundfunks. Seit 1960 ist er als Dirigent zeitgenössischer Musik tätig und unterrichtet an mehreren Musikhochschulen in den Vereinigten Staaten.
Die Popularität, die dieses Werk in breiten Publikumskreisen genießt, ist ungewöhnlich für eine avantgardistische Komposition. Sie erklärt sich wohl nicht zuletzt daraus, daß Berio hier dem "schönen Klang" des 19. Jahrhunderts huldigt, ohne dabei in nostlagische Schwelgerei zu verfallen. Der Titel "Sinfonia" ist durchaus wörtlich zu nehmen als Zusammenklang von großem Orchester und acht elektronisch verstärkten Vokalstimmen. Die gesungenen Texte bilden ein vielfach verknüpftes Netz von Assoziationen. Berio hält es allerdings für unwesentlich, ob das Publikum die Texte versteht und die Verbindungen bewußt wahrnimmt: "Die Erfahrung des 'nicht recht Hörens' ist entscheidend für die Natur des Werks'."
Im ersten Satz geht es um den brasilianischen Mythos vom Ursprung des Wasser, um den Helden, der diverse Prüfungen und Bußtaten vollbringt und schließlich den Tod findet.
Im zweiten Satz ("O King") meditieren die acht Vokalstimmen über den Namen des ermordeten amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King.
Der dritte Teil zitiert Auszüge aus Becketts Roman "Der Namenlose", wo es ebenfalls um den "getöten Helden" geht.
Der vierte Satz beginnt mit einem Zitat aus Mahlers zweiter Sinfonie. Die Musik "stellt eine Huldigung an Gustav Mahler dar, dessen Werk das Gewicht der ganzen Musikgeschichte in sich zu tragen scheint." Gegen Mitte des Satzes fügen sich neben Mahler noch Richard Strauss' "Rosenkavalier-Walzer" uns Ravels "La Valse" zu einer scheinbaren Einheit zusammen.
Für die Musiktage in Donaueschingen 1969 erweiterte Berio das Werk um einen Satz, der musikalisch wie textlich eine Synthese aus den vorangegangenen Teilen bildet.