Hector Berlioz: Lélio oder Die Rückkehr ins Leben

Dieser Beitrag ist entstanden als
CD-Booklet-Text für EMI Classics.

Inhalt:

Die Vorgeschichte (Symphonie fantastique): Ein junger Musiker hat versucht, sich in einem Anfall verliebter Verzweiflung mit Opium zu vergiften. Er fällt in einen langen Schlaf, der von seltsamen Visionen begleitet wird. Schließlich träumt ihm, er habe seine Geliebte ermordet und werde zum Richtplatz geschleift. Nach seiner Hinrichtung wird er Zeuge einer wüsten Walpurgisnacht-Orgie ...

Das Monodrame lyrique setzt ein, als Lélio (der Musiker aus der Symphonie fantastique) aus seinem Opiumrausch erwacht. Der Schrecken von Hinrichtung und Hexensabbat steckt ihm noch in den Knochen, gleichzeitig ist er jedoch verzweifelt, daß das Schicksal ihn immer noch an das Leben gekettet hat. Er erinnert sich an vergangene Zeiten, da er für seinen Freund Horatio das Klavierlied Der Fischer (Nr. 1) komponiert hat. Die Sirene, die den Fischer in die Tiefe zieht, erscheint dem Musiker nun als Vorahnung des Leidens, daß die eigene ungetreue Geliebte ihm bereitet hat.

Lélio versinkt in einen Monolog, der um künstlerische Selbstfindung und Weltschmerz kreist: "Lebe der Kunst, der Freundschaft! Leben! - für mich heißt Leben: Leiden!" Die Reflexionen Hamlets kommen ihm in den Sinn, und in seiner Einbildungskraft ersteht im vollen Orchesterklang der Chor der Geister aus der Beschwörungsszene (Nr. 2). Kaum ist der Chor verklungen, rechnet der Künstler Lélio mit den Kritikern und sonstigen Feinden der Kunst ab; mit den

"erbärmlichen Bewohnern des Tempels der Gewohnheit, jenen fanatischen Priestern, die ihrer stumpfsinnigen Göttin die erhabensten neuen Ideen opfern würden, wenn es ihnen überhaupt vergönnt wäre, dergleichen zu besitzen."

Er will fort aus dieser "Gesellschaft, die schlimmer ist als die Hölle" und träumt von einem Leben als räubernder Brigant in den Abruzzen (Nr. 3). Erneut erwacht in Lélio das Bild der Geliebten, und er besingt das zukünftige Glück, wenn sie in seinen Armen ruhen wird (Nr. 4). Der gemeinsame Liebestod erscheint ihm nunmehr als höchste Erfüllung. Unter den Klängen der Äolsharfe (Nr. 5) erinnert sich Lélio, daß der Tod sich ihm verweigert hat, daß er zu leben gezwungen ist:

"Componiren will ich, wär's auch nur für mich - und zwar einen Stoff, der alle düsteren Färbungen ausschließt."

Er beschwört die Geister aus Shakespeares "Sturm", und mit einem Mal verwandelt sich die leere Bühne in den Bühnenraum eines Theaters. Chor und Orchester werden sichtbar und führen Lélios/Berlioz' Fantasie über Shakespeares "Der Sturm" (Nr. 6) auf. Der Vorhang fällt. Tatkräftig will Lélio sein neues Leben fortan in die Hand nehmen, doch schon wirft die Vergangenheit wieder ihre Schatten: Aus dem Hintergrund erklingt leise die Idée fixe aus der Symphonie fantastique, und Lélio stöhnt: "Nochmals! Nochmals - und für immer!"

Auf die Idee, die Geschichte der Symphonie fantastique fortzusetzen, kam Hector Berlioz während seines Rom Aufenthalts im Sommer 1831. Kurz vor seiner Abreise hatte er sich in eine junge Dame namens Camille Moke verliebt, aber kaum war er in Rom eingetroffen, als er erfuhr, daß Mademoiselle Moke sich mittlerweile anderweitig liiert hatte und an eine Heirat mit Monsieur Pleyel jr. dachte. Einen theatralischen Racheplan im Kopf (er wollte Mutter, Tochter und Bräutigam erschießen), machte sich Berlioz wieder nach Paris auf. In Nizza kam er jedoch zur Vernunft und beschloß, fortan seine Liebe der Kunst zu opfern. Die Rückkehr nach Rom, die Rückkehr zur Kunst, war eine "Rückkehr ins Leben".

Den Text zu Lélio entwarf Berlioz innerhalb weniger Tage. An seinen Freund, den Schriftsteller Thomas Gounet, schrieb er:

"Was meine Verse betrifft, so habe ich mir nicht einfallen lassen, den Reimen nachzulaufen; ich schrieb eine kadenzierende und versartig gemessene Prosa, hin und wieder gereimt; das ist alles, was für die Musik nötig ist. [...] Die Musik ist auch schon fertig; ich brauche sie bloß noch zu kopieren."

Mit der Musik zu Lélio hatte Berlioz in der Tat keine große Mühe - er plünderte einfach frühere Kompositionen: Der Gesang vom Glück (Nr. 4) und die Äolsharfe - Souvenirs (Nr. 5) stammen aus der Kantate La Mort d'Orphée, mit der Berlioz sich 1827 für den "Prix de Rome" beworben hatte, der Chor der Geister (Nr. 2) ist der Kantate "La Mort de Cléopatre" von 1829 entnommen, und die Shakespeare Fantasie (Nr. 6) hatte Berlioz bereits im November 1830 in Paris zur Aufführung gebracht. Die disparate Zusammenstellung der einzelnen Teile, der Wechsel von Klavierlied, Chorsatz und Orchestereinlage mag heutzutage befremdlich wirken, entsprach aber durchaus den "bunten" Programmzusammenstellungen, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich waren.

Obwohl Berlioz Lélio mehr schätzte als die Symphonie fantastique (weil in dem Monodram die Unterwerfung des symphonischen unter das poetische Prinzip konsequenter durchgeführt war), konnte sich das Werk im Konzertrepertoire nie durchsetzen. Die Uraufführung fand im November 1832 statt; zusammen mit der Symphonie fantastique wurde Lélio erst wieder 1855 in Weimar unter der Leitung von Franz Liszt aufgeführt.

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