Darius Milhaud (1892-1974): Orchesterwerke

Dieser Text ist entstanden als Beitrag für:
Bibliothek der Meisterwerke -
Sinfonien, Konzerte, Ouvertüren.
Köln, Naumann & Göbel, S. 212-214

Einführung

Die Orchestermusik des Franzosen Darius Milhaud ist in deutschen Konzertsälen nie recht heimisch geworden: Man hört den Kompositionen allzu deutlich an, daß sie mit leichter Hand geschrieben worden sind. Aber genau dieser gefällige, unverbindlich-unterhaltsame Charakter, der sich doch nie unter Niveau verkauft, sichert Milhauds umfangreiches Oeuvre (über 400 Nummern) einen beständigen Platz in den Rundfunkprogrammen. Milhaud selbst beschrieb seine Arbeit lieber als Kunsthandwerk denn als Kunst. Seine Idee war es "Musik für den Augenblick und für den alltäglichen Gebrauch zu machen," und dementsprechend graulte ihm zeitlebens vor der "deutschen tiefgründigen Kulturbeflissenheit":

Meine musikalische Bildung ist ausschließlich durch den lateinisch-mittelmeerischen Kulturkreis bestimmt, was sich schon daraus erklärt, daß ich einer sehr alten jüdischen Familie der Provence entstamme. Die südländische und besonders die italienische Musik hat mir immer sehr viel gesagt, die deutsche Musik so gut wie nichts.

Studiert hat Milhaud bei Paul Dukas, Charles Widor und Vincent d'Indy; seine eigentliche künstlerische Prägung erhielt er allerdings, als er während des Ersten Weltkriegs als französischer Gesandtschaftsattache mit dem Schriftsteller Paul Claudel nach Rio de Janeiro reiste. In den lasziv-harmonischen Melodien der südamerikanischen Folklore und in den Synkopen des Jazz sah er eine Alternative zur Musiksprache von Richard Wagner und Claude Debussy. Aus dieser ästhetischen Haltung heraus gründete Milhaud zusammen mit Arthur Honegger, Francis Poulenc und anderen Musikern 1920 die "groupe de six".

Milhauds Musik ist - geradezu überraschend für einen Komponisten des 20. Jahrhunderts - immer tonal ausgerichtet. Seine Harmonien lassen sich auf die Tongeschlechter Dur und Moll zurückführen, wobei er allerdings häufig mehrere Tonarten parellel übereinander schichtet (Poly-Tonalität). 1940 mußte Milhaud vor der antisemitischen Verfolgung in die Vereinigten Staaten fliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er abwechselnd in Paris und in Kalifornien, wo er sich vor allem als Komponist von Filmmusiken einen Namen gemacht hat.

Sinfonien, Konzerte

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Die sechs Kammersinfonien aus den zwanziger Jahren sind kurze Stücke von wenigen Minuten Länge, die teilweise nur mit Soloinstrumenten (unter anderem auch mit einem textlosen Vokalquartett) besetzt sind. Daneben schrieb Milhaud 13 Sinfonien für großes Orchester: Die dritte ist eine Chorsinfonie mit dem Text des lateinischen "Te Deum"; Nr. 4 entstand 1948 "zur Befreiung des Vaterlandes" und der letzten Sinfonie (1966) liegen Textausschnitte aus der Enzyklika "Pacem in terris" von Papst Johannes XXIII. zugrunde. Milhaud hat für diverse Soloinstrumente Konzerte geschrieben, unter anderem fünf Klavierkonzerte sowie Konzerte für Violine, Viola, Oboe, Klarinette, Schlagzeug und Marimaphon.

Le bœuf sur le toit. Cinéma-Fantasie op. 58 (UA 1920)

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Über die Entstehung des Werks schreibt Milhaud in seiner Autobiographie:

Nach meinem Aufenthalt in Südamerika verfolgten mich eine Zeit lang die eingängigen Melodiefetzen aus Rio. Um die Geister zu bannen, notierte ich ein paar dieser Melodien - Tangos, Sambas und anderes - und nannte die Phantasie "Der Ochse auf dem Dach". Es ist der Titel eine bekannten brasilianischen Liedes. Ich glaubte, daß der Charakter dieser Phantasie eine geeignete Begleitung für einen Chaplin-Film hergeben würde.

Jean Cocteau überzeugte Milhaud vom Gegenteil. Um den tänzerischen Charakter der Musik angemessen zur Geltung bringen, schlug er eine groteske Balletthandlung vor, zu der Raoul Dufy die Dekoration entwarf.

Schauplatz ist eine Bar in den Vereinigten Staaten während der Alkohl-Prohibition in den zwanziger Jahren; es finden sich ein: ein Boxer, ein schwarzer Liliputaner, eine Dame und ein Herr aus der besseren Gesellschaft, eine rothaarige Frau in Männerkleidern sowie ein Buchmacher. Als unerwartet ein Polizist eintritt, verwandelt sich das Etablissement in eine harmlose Milchbar. Der Polizist läßt sich jedoch nicht täuschen und will mit der Verhaftung beginnen. In dem Augenblick setzt der Barkeeper den riesigen Deckenventilator in Betrieb, mit dem der Polizist enthauptet wird. Nach einem orgiastischen Tanz verlassen die Gäste die Bar. Der Barkeeper erweckt den Polizisten wieder zum Leben und präsentiert ihm die Rechnung für die unbezahlen Getränke.

La création du monde (Die Erschaffung der Welt). Ballettmusik op. 81a

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Anfang der zwanziger Jahre kam Milhaud in London und New York mit dem Jazz in Berührung. Die unverbrauchten Klangmischungen von Saxophon, Klarinette, Trompete und Posaune, die komplexen Schalgzeugrhythmen und die Melodien, die immer wieder aus dem starren Taktschema ausbrechen, faszinierten ihn. Die konkrete Anregung zu einem "Jazz-Ballett" kam dann 1923 von dem Choreographen Blaise Cendras, der für die "Schöpfung der Welt" auf afrikanische Volksmythen zurückgriff. Die Ausstattung der der Kostüme und Szenerie besorgte Fernand Léger.

Die Handlung ist in fünf Abschnitte unterteilt, die allerdings unmittelbar ineinander übergehen:

  1. Das Chaos vor der Schöpfung. Die Götter verscuhen mit magischen Handlungen, Leben zu erschaffen.
  2. Es entstehen Pflanzen und Tiere.
  3. Die Tiere beginnen sich zu bewegen. Der Mensch entsteht.
  4. Orgiatischer Tanz und Vereinigung der ersten beiden Menschen.
  5. Entspannung. Die Geschichte der Welt nimmt ihren Lauf.

Suite provencale (1936)

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Das achtsätzige Werk ist im neoklassizistischen Stil gehalten, wie ihn Strawinksy mit seiner "Pulcinella-Suite" propagiert hatte. Milhaud benutzt in seiner Suite provencale Melodien und harmonische Muster, die der französischen Tanzmusik des 18. Jahrhunderts angehören. So eingängig und gefällig die Komposition beim oberflächlichen Anhören erscheinen mag, so vielschichtig ist doch die innere musikalische Struktur: Immer wieder läßt Milhaud unterschiedliche Rhythmus-Modelle gegeneinander laufen und kontrastiert die instrumentalen Klangfarben, indem die Musik in mehreren Tonarten gleichzeitig abläuft.

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