Singen ist das Fundament zur Musik in allen Dingen

Anmerkungen zum Leben von Georg Philipp Telemann

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart
(Sendung: Alte Musik kommentiert, 8.12.1992)

Musik-Nr.: 01
Komponist: Georg Philipp Telemann
Werk-Titel: Tafelmusik, Production III
Auswahl: Conclusion <CD 4, Tr. 25.> 1:45
Interpreten: Musica antiqua Köln
Label: Archiv (LC 0113)
427 619-2
<CD 4, Tr. 25.> Gesamt-Zeit: 1:45
Ein Lulli wird gerühmt, Corelli läßt sich loben;
nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.

Was der Hamburger Musikgelehrte Johann Mattheson hier an launigem Zweizeiler zu Papier brachte, war Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland einhellige Meinung. Georg Philipp Telemann, fürstlicher Titular-Kapellmeister am Hof zu Sorau, Eisenach und Bayreuth, Musikdirektor der freien Stadt Hamburg und Leiter des dortigen Opernhauses, wurde damals als der deutsche "Vorzeige"-Komponist gehandelt, den sogar die französischen Musiker als "ihnen ebenbürtig" betrachteten. Telemanns Werke waren in ganz Europa verbreitet. Seine Musiksammlung mit dem Titel "Tafelmusik" fand Abnehmer in Paris und Lyon, sie wurde in Kopenhagen und London ebenso gespielt wie in Winterthur und Delft; und sogar aus Spanien und Norwegen trafen Nachfragen nach den Noten von "des Herrn Telemanns Tafelmusik" ein.

Musik-Nr.: 02
Komponist: Georg Philipp Telemann
Werk-Titel: Tafelmusik, Production II
Auswahl: Conclusion <CD 3, Tr. 16.> 6:10
Interpreten: Musica antiqua Köln
Label: Archiv (LC 0113)
427 619-2
<CD 3, Tr. 16.> Gesamt-Zeit: 6:10

So außergewöhnlich wie Telemanns Ruhm war auch sein Lebensweg - und Telemann gefiel sich darin, mit seiner Biographie zu kokettieren: In seinen Lebensläufen berichtet er ausführlich davon, unter welch widrigen Umständen er es zum angesehenen Komponisten gebracht hat. 1681 wurde er in Magdeburg geboren, wo ihm, kaum daß er vier Jahre alt war, der Vater hinwegstarb. Trotz der nun eher ärmlichen Verhältnisse ermöglichte ihm die Mutter eine solide Schulausbildung:

Hier lernte ich zuvörderst Lesen, Schreiben, den Katechismus und etwas Latein, ergriff aber auch die Violine, Flöte und Zither, womit ich die Nachbarn belustigte, ohne zu wissen, ob Noten in der Welt wären. In der Musik hatte ich, binnen weniger Wochen so viel begriffen, daß der Kantor mich an seiner Statt die Singestunden halten ließ. Genug - ich wurde dadurch veranlaßt, allerhand Musik zusammenzuraffen, die ich in Partituren schrieb, bis ich endlich (in aller Stille) selbst anfing zu komponieren.

Telemanns musikalische Neigung nahm geradezu beängstigende Formen an. Mit zwölf Jahren schrieb er eine Oper mit dem Titel "Sigismundus" (die leider nicht erhalten ist); was seine Mutter dazu veranlaßte,ihm die weitere Beschäftigung mit Musik strengstens zu verbieten.

Die Musik-Feinde kamen in Scharen zu meiner Mutter und stellten ihr vor: Ich würde ein Gauckler, Seiltänzer, Spielmann, Murmeltierführer, wenn mir die Musik nicht entzogen würde. Gesagt, getan! Mir wurden Noten, Instrumente, und mit ihnen das halbe Leben genommen.

Aber des jungen Telemanns Sucht nach Musik bekamen sie dennoch nicht in den Griff. Er hörte Opern, spielte Orgel und komponierte, wo immer er konnte - immerhin mit solchem Talent und solcher Überzeugung, daß er schließlich doch den mütterlichen Segen erhielt. Als Student in Leipzig gründete er das "Collegium musicum", ein Dilettanten-Orchester, das Bach später als Thomaskantor übernehmen sollte. Telemann schrieb in jenen Jugendjahren eine Unmenge an Orchester-Suiten, Kirchenkantaten und Opern; doch die Qualität dessen, was er zu Papier brachte, läßt sich kaum beurteilen - zu wenig ist erhalten, und das wenige ist zumeist nicht einmal als authentisch gesichert.

Im polnischen Sorau und in Eisenach wirkte Telemann als Hofkapellmeister, bis er sich schließlich 1712 als Städtischer Musikdirektor in Frankfurt am Main bewarb:

Ich weiß nicht, was mich bewog, einen so auserlesenen Hof, als der eisenachische war, zu verlassen; das aber weiß ich, damals gehört zu haben: Wer Zeit Lebens fest sitzen wolle, müsse sich in einer Republik niederlassen. Es hat mich aber dieses nach Frankfurt gebracht, daß ich vermeinte, es würde die an einer Reichs-Stadt zu hoffende Ruhe zur Verlängerung meines Lebens zuträglich seyn. Wiewohl - was die Ruhe anbelanget - so habe ich sie bis anhero noch nicht gefunden; woran aber mein Naturell, welches keinen Müßiggang ertragen kann, wohl die Ursache ist.

In Frankfurt dann komponierte Telemann 1716 jenes Passions-Oratorium, das ihn (mehr als alles vorige) über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt machte - die Dichtung des Hamburger Ratsherrn Barthold Brockes mit dem Titel "Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus".

Musik-Nr.: 03
Komponist: Georg Philipp Telemann
Werk-Titel: Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus ("Brockes Passion")
Auswahl: Nr. 97-106 <CD 3, Tr. 9.-12.> 6:30
Interpreten: div. Solisten
Capella Savaria
Ltg.: Nicholas McGegan
Label: Hung (LC ____)
31 130-32
<CD 3, Tr. 9.-12.> Gesamt-Zeit: 6:30

Die sogenannte "Brockes-Passion" von 1716 war für Telemann ein unerwarterer Erfolg - künstlerisch wie finanziell.

Die Musik wurde an etlichen außerordentlichen Tagen in der Woche stark und ausbündig ausgeführet, bei Anwesenheit verschiedener großer Herren und einer unsäglichen Mengen von Zuhörern. Es ist hierbei (als etwas Sonderbares) zu merken, daß die Kirchentüren mit Wachen besetzt waren, die keinen hineinließen, der nicht mit einem gedruckten Exemplar der Passion erschien.

Die "gedruckten Exemplare" der "Brockes-Passion" hatte Telemann auf eigene Kosten anfertigen lassen und brachte sie nun mit Gewinn unter die Leute: das wohl erste Kirchenkonzert, für das die Zuhörer (wenn auch in subtiler Form) Eintritt zahlen mußten!

Was die künstlerische Seite anbelangt, so war die deutsche Musikwelt, allen voran der Textdichter, der Hamburger Ratsherr Barthold Brockes, von der Komposition hellauf begeistert. Herr Brockes war es denn auch, der sich 1721 dafür einsetzte, daß Telemann als städtischer Musikdirektor nach Hamburg berufen wurde.

In Hamburg blühte damals das Musikleben. Als freie Reichsstadt, Übersee-Hafen und Handelsmetropole war Hamburg für alle Einflüsse offen. Engländer und Spanier betrieben hier ihre Handels-Niederlassungen, Protestanten und Katholiken lebten hier friedlicher zusammen als sonst irgendwo in Deutschland, und ebenso durften sich auch italienischer und französischer Musikgeschmack ungestört entfalten. Hamburg besaß ein reichhaltiges Konzertleben wie sonst kaum eine Stadt in Europa, und hier am Gänsemarkt stand das erste deutsche Opernhaus, zu dem auch Bürgerliche (gegen Entgelt) Zutritt hatten.

Telemanns jährliche Einkünfte in Hamburg waren beträchtlich. Mit Nebeneinnahmen aus Kollekten und Beerdigungsmusiken, mit Auftrags- und Gelegenheitskompositionen sowie durch den Verkauf von Noten und Eintrittskarten kam er auf etwa fünftausend "Hamburgische Mark" im Jahr - soviel wie der oberste Hamburger Bürgermeister, während ein Ratsdiener damals mit zwölf Mark jährlich auskommen mußte!

Zu den Auftragskompositionen, die neben Geld auch viel Ansehen einbrachten, zählten auch die Repräsentationsmusiken für die jährliche Admiralitätsfeier. Der Admiralität unterstand das gesamte hamburgische Schiffahrts-Wesen, sie kontrollierte den Handel, setzte die Einfuhr-Zölle fest und betätigte sich als Versicherungs-Unternehmen. Zum hundertjährigen Bestehen der Admiralität im April 1723 schrieb Telemann die sogenannte "Hamburger Ebb' und Flut" - eine Folge von Tanzsätzen mit mythologisch-allegorischen Bezügen: die Meeresgöttin Thetis, Neptun, die Najaden und Neptuns Sohn Tritonus, die Windgötter Aeolus und Zephyr - sie alle werden aufgeboten, um den mächtigen Herren zu huldigen.

Musik-Nr.: 04
Komponist: Georg Philipp Telemann
Werk-Titel: Ouvertüre C-Dur "Hamburger Ebb' und Flut"
Auswahl: Menuet - Gigue - Canarie <Track 8-10.> 4:35
Interpreten: Musica antiqua Köln
Ltg.: Reinhard Göbel
Label: Archiv (LC 0113)
413 788-2
<Track 8-10.> Gesamt-Zeit: 4:35

Die Anerkennung, die Telemann in Hamburg entgegengebracht wurde, konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch in einer "freien Reichs-Stadt" mit der Freiheit der Künste nicht weit her war. Immer wieder mußte Telemann sich zur Wehr setzen und auf seinen Rechten bestehen - zum Beispiel, als der Hamburger Ratsdrucker darauf bestand, er allein sei befugt, die Noten und Textbücher des Musikdirektors zu drucken und den Gewinn daraus zu ziehen - so sei es schon unter Telemanns Vorgänger Gerstenbüttel gewesen!

Aber auch die protestantischen Kirchenvorstände machten Schwierigkeiten. Die "Brockes-Passion" etwa durfte Telemann wegen ihres opernhaften Charakters in den Hamburger Hauptkirchen nicht aufführen. Und als die frommen Herren sich auch noch beschwerten, daß Telemann in einem öffentlichen Wirtshaus Musik aufführe, die zur Wollust anreize, reichte er beim Rat der Stadt Hamburg seine Entlassung ein:

Nachdem die Stadt Leipzig meine wenige Person zur Übernehmung der Direction dortiger Music ausersehen hat, habe ich in Betrachtung ihrer guten Beschaffenheit wie auch in Entgegenhaltung der hiesigen für micht anitzo nicht günstig scheinenden Verhältnisse keine Bedenken, solche Station zu ergreifen. Demnach ergehet an Eure Magnifizenzen meine untertänigste Bitte, es wollen Dieselben mich meiner bisher allhier verrichteten Dienste hochgeneigt erlassen.

Aber der Hamburger Rat wußte, was er an seinem derzeitigen Musikdirektor hatte, und nachdem man reiflich überlegt hatte, versprach man Telemann die Übernahme der Wohnugnsmiete und ungestörtes künstlerisches Wirken.

Ungestört? Was die Musikkritiker und -gelehrten schrieben, darauf hatte der Rat keinen Einfluß. Und die Hamburger Musikkritik war schon damals in ganz Deutschland gefürchtet. Johann Mattheson etwa nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, die zeitgenössische Musik gegen die Altvorderen zu verteidigen, oder wenn es galt, musikalische Peinlichkeiten als Peinlichkeiten zu entlarven. Selbst Freundschaften schützten da nicht; und Mattheson und Telemann achteten einander sehr. Aber als Mattheson eine von Telemanns Kantaten unter die Finger bekam, schrieb er in 1722 seiner "Critica musica":

Worte, die keinen angenehmen Ton zulassen und wider alles musikalische Geläute laufen, als da sind: Zischen, Lärmen, Schnattern, Krähen etc., sollten mit Fleiß vermieden werden, weil sie dem Komponisten nur Anlaß geben, sein Metier zu prostituieren, und im Zuhörer weiter nichts als Gelächter erwecken. Vor allem sollte die Vokalmusik mit solch niederträchtigen Dingen, die gegen die Würde der Musik verstoßen, verschont bleiben. So dürfte ein satter Ochs in dem Munde einer schönen Sängerinn oder das Wiehern muntrer Pferde, Enten, Gänse, Ziegen vielen Hörern unangenehm aufstoßen. Solche Sachen haben durchaus ihre Meriten; lassen sich aber besser lesen als singen.

Den Eingeweihten war klar, worauf Mattheson anspielte - auch wenn weder Komponist noch Titel genannt wurden. Ziel von Matthesons Polemik war Telemanns Kantate "Alles redet itzt und singet" auf einen Text von Barthold Brockes.

Musik-Nr.: 05
Komponist: Georg Philipp Telemann
Werk-Titel: Kantate "Alles redet itzt und singet"
Auswahl: Schluß (ab "Indessen wächst der Laut") <Track 22.23.> 5:35
Interpreten: Barbara Schlick (Sopran)
Stephen Varcoe (Baß)
Das Kleine Konzert
Ltg.: Hermann Max
Label: Cap (LC 8748)
10 315
<Track 22.23.> Gesamt-Zeit: 5:35

Dem Musikkritiker Mattheson mochte das musikalische Summen der Hummeln, das Brüllen der Ochsen und Schnattern der Gänse aufgestoßen sein - das Publikum hatte seine Freude daran. Was Telemann komponierte, war (selbst wenn es nicht immer erstklassig war) allemal besser als das, was seine Kollegen zu Papier brachten. Und wer konnte sich schon mit Telemanns Produktivität messen? Im Laufe seines Lebens (er ist immerhin 86 Jahre alt geworden) schrieb er: 17 Opern, 56 weltliche Kantaten, 122 Orchestersuiten, 88 Konzerte, 39 Passionen, 1.043 Kirchenkantaten, unzählige sonstige Kirchenmusikwerke und Kammermusik en masse.

Aber auch über Telemann ging die Zeit hinweg - schon zu Lebzeiten. Niemand schien an seiner Musik etwas auszusetzen zu haben, niemand sah eine Veranlassung, ihn ernsthaft zu kritisieren, bis sich im Juni 1764 beim Hamburger Rat der Hauptpastor von Sankt Katharinen Melchior Goeze meldete: Telemann habe den Luther-Choral "Komm Heiliger Geist, Herre Gott" verunstaltet:

Ich ersuche Eure Magnifizenz demnach gehorsamst, dem Kantor Telemann diesen Unfug verweisen und demselben anbefehlen zu lassen, die alten Lieder, insonderheit dieenigen, die Luther zum Urheber haben, so zu behalten, wie solche in unserem Gesangbuche stehen, und die Gemeinde mit verstümmelten und elenden Verbesserungen dieser Lieder nicht zu ärgern und zu verwirren.

Worauf Telemann nur zu antworten weiß, daß seine Musik bisher in den Hamburger Kirchen, ohne Anstoß zu erregen, aufgenommen worden ist, und er beendet das Schreiben mit der Bemerkung:

Übrigens wird mein unvermögendes Alter und meine nur noch kurz anscheinende Lebenszeit mich verhindern, fernere Unvorsichtigkeiten in diesem Falle zu begehen.

Musik-Nr.: 06
Komponist: Georg Philipp Telemann
Werk-Titel: Bicinium "Komm heiliger Geist, Herre Gott" <Track 12.> 2:30
Interpreten: Wolfgang Baumgratz (Orgel)
Label: MDG (LC 6768)
L 3078
<Track 12.> Gesamt-Zeit: 2:30
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