Koch: Musikalisches Lexikon

Vorschlag,

<1719> (ital. Appogiatura) ist eine der bekanntesten Spielmanieren, derer man sich zu der Auszierung der Melodie bedient. Er bestehet eigentlich aus einem Tone, der nicht in der zum Grunde liegenden Harmonie enthalten ist, der aber der melodischen Hauptnote stufenweis vorhergehet, und durch seine dissonirende Eigenschaft ein Verlangen <1720> nach dem eigentlichen melodischen Haupttone erweckt, und den Eintritt desselben dem Ohre reizbarer macht. In der Notenstimme wird ein solcher Vorschlag nicht so wie die übrigen Noten in den Takt eingetheilt, sondern bloß vermittelst einer kleinen Note bezeichnet, deren Dauer der nachfolgenden Hauptnote wieder abgezogen wird. Die Hauptnote <1721> wird daher durch den Vorschlag einige Zeit aufgehalten. Es giebt in einem Tonstücke mehr dergleichen Töne, die durch eine stufenweis vorhergehende Note aufgehalten werden, und die theils unter dem Namen der Wechselnoten bekannt sind, die aber ordentlich in den Takt eingetheilt und mit gewöhnlichen Noten vorgestellet werden. Die Ursache, warum dieses bey dem Vorschlage nicht ebenfalls geschieht, hat ihren Grund in der besondern und ausgezeichneten Art, wie der Vorschlag ausgeführet wird. Man ist nemlich darinne überein gekommen, bey der Aufhaltung einer melodischen Hauptnote vermittelst des Vorschlages, den Vorschlag selbst durch einen besondern Accent merklich heraus zu heben, oder ihn mit einem gewissen geschwinden Anwachsen der Stärke des Tones zu intoniren: und sodann die darauf folgende melodische Hauptnote sanft oder mit verminderter Stärke an denselben anzuschleifen. Dieses sanfte Anschleifen des Vorschlags an seine nachfolgende Hauptnote wird der Abzug genannt, über dessen Ausführung die Meinungen der Tonkünstler noch getheilt sind. [FN: Siehe Abzug] Einige behaupten nemlich, daß z.B. auf dem Claviere der Finger oder auf der Violine der Bogen bey der Hauptnote sanft abgehoben werden müsse; andere hingegen halten dieses für unnöthig, so lange auf die Hauptnote keine Pause folgt.1

Die Dauer des Vorschlags richtet sich gewöhnlich nach dem Werthe der Hauptnote, vor welcher er stehet; er nimmt nemlich, so lange die Hauptnote keinen Punkt nach sich hat, die Hälfte ihrer Dauer ein; z.B.

Notenbeispiel Sp. 1721, Nr. 1a
Notenbeispiel Sp. 1722, Nr. 1b

<1722> Oder wenn der Abzug (wie einige wollen) merklicher seyn soll;

Notenbeispiel Sp. 1722, Nr. 2

Stehet aber ein Punkt hinter der Note, so dauert der Vorschlag so lange als die Note selbst, und auf dem Punkte wird erst die Hauptnote angeschleift. In diesem Falle nimmt also der Vorschlag zwey Drittel von dem Werthe der durch den Punkt verlängerten Note ein; z.E.

Notenbeispiel Sp. 1722, Nr. 3

oder

Notenbeispiel Sp. 1722, Nr. 4

Auf eine ähnliche Art verfährt man gemeiniglich, wenn nach der Hauptnote eine Pause folgt; in diesem Falle dauert mehrentheils der Vorschlag so lange als die Note selbst, und die Hauptnote wird erst bey dem Eintritte der Pause angeschleift, aber in diesem Falle kurz abgezogen; z.E. <1723>

Notenbeispiel Sp. 1723/1724, Nr. 1

Es ist vorhin erinnert worden, daß der Vorschlag vor einer Note mit einem Punkte den Werth der Note selbst, und die Hauptnote nur den Werth des Punktes erhalte. Diese Regel leidet in dem 6/8 und 6/4 Takte in dem Falle eine <|> Ausnahme, wenn, wie z.E. in folgendem Takte, wegen des letzten Achtels f der eigentliche Werth der Note getheilt, und ein Theil der zweyten Hälfte vermittelst des Bindezeichens wieder an die erste Hälfte gebunden werden muß; als

Notenbeispiel Sp. 1723/1724, Nr. 2

<|> Kömmt nun ein Vorschlag für eine auf diese Art getheilte, und zum Theil wieder mit der ersten Hälfte verbundene Note, zu stehen, so richtet man sich in Ansehung der Dauer des Vorschlages nicht nach der Note mit dem Punkte, sondern <|> man betrachtet die beyden bloß wegen der Schreibart getrennten Theile als eine aus zwey gleichen Theilen bestehende Note, und giebt dem Vorschlage die ganze erste Hälfte derselben; z.E.

Notenbeispiel Sp. 1723/1724, Nr. 3

<|> Im 6/4 Takte hat es gleiche Bewandniß; <|> z.E.

Notenbeispiel Sp. 1723/1724, Nr. 4

<1725> Zuweilen kommen auch Vorschläge vor, wo die Hauptnote von einer andern als der zunächst darüber <|> oder darunter liegenden Stufe aufgehalten wird; z.E.

Notenbeispiel Sp. 1725/1726, Nr. 1

<|> Alle diese angezeigten Vorschläge nennet man Vorschläge von bestimmter Dauer, um sie von einer andern Art der Vorschläge zu unterscheiden, die ganz kurz vorgetragen werden, und wobey der Accent nicht auf dem Vorschlag, sondern auf die Hauptnote selbst fällt, und die man, weil sie so geschwind <|> an die Hauptnote geschleift werden, daß es scheint, als würde derselben dadurch nicht das Geringste von ihrem Werthe entzogen, Vorschläge von unbestimmter Dauer nennet. Sie kommen hauptsächlich in muntern Sätzen vor, und zwar entweder bey springenden Noten; z.E.

Notenbeispiel Sp. 1725/1726, Nr. 2

<|> oder bey der Wiederholung einer <|> Note; z.E.

Notenbeispiel Sp. 1725/1726, Nr. 3

<|> oder auch vor einer Bindung; <|> z.B.

Notenbeispiel Sp. 1725/1726, Nr. 4

<1727> Wenn vor einer Hauptnote mehr Vorschlagsnoten stehen, werden sie mit gleicher Geschwindigkeit an die <|> Hauptnote angeschleift, die auch in diesem Falle den Accent bekömmt; z.B.

Notenbeispiel Sp. 1727

<|> Weil oft Fälle vorkommen, bey welchen es schwer ist, zu entscheiden, ob der Vorschlag ein Vorschlag von bestimmter Dauer seyn soll oder nicht, so hat man schon längst gewünscht, daß die Tonsetzer jeden Vorschlag mit einer solchen kleinen Note schreiben möchten, die der Dauer entspricht, die er bekommen soll, das heißt, daß sie, wenn der Vorschlag ein Viertel dauern soll, sich einer kleinen Viertelnote, wenn er ein Achtel dauern soll, einer Achtelnote u.s.w. zu Bezeichnung desselben bedienen möchten. Allein bis jetzt noch geschieht dieses von den wenigsten mit der nöthigen Pünktlichkeit.

Weitläuftigern Unterricht über den Vortrag der Vorschläge findet man im zweyten Hauptstücke des ersten Theils von Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen; im dritten Kapit. der Clavierschule von Türk; in den beyden Anweisungen zum Flötenspielen von Quanz und Tromlitz, u.a.m.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 1721/1722):

Siehe das Werkchen von Reichardt: Ueber die Pflichten der Ripien-Violinisten. Seite 41.

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