Der Pianist Rudolf Serkin (+ 8. Mai 1991)

Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript
für den Deutschlandfunk, Köln
(Sendung: 10.5.1992 - "Historische Aufnahmen")

Exposé

Am 8. Mai 1991 starb im Alter von 88 Jahren der Pianist Rudolf Serkin. Wenn es um zirzensische Tasten-Attraktionen ging, um Höchstgeschwindigkeiten auf dem Klavier und um Lautstärke, wurde sein Name nur selten genannt. Dafür aber boten seine Konzertabende und seine Schallplattenaufnahmen reichlich Gelegenheit, etwas über das Wesen von Musik zu erfahren. Serkins Beethoven- und Schubert-Interpretationen atmen gedankliche Tiefe, ohne daß er sich dabei in selbstverliebte Grübeleien verlor. Sein Spiel war geprägt von einer solchen Klarheit, daß Busoni ihm Anfang der zwanziger Jahre riet, er solle ein wenig "schmutziger" spielen. Die äußeren Lebensstationen: 1903 in Eger geboren, Kammermusikpartner von Adolf Busch; 1933 dann mußte er nach Amerika emigrieren, wo er 1950 in Marlboro ein Kammermusik-Festival gründete und als "Europäer unter Amerikanern" heimisch wurde.

Sendemanuskript
Musik-Nr.: 01
Komponist: Ludwig van Beethoven
Werk-Titel: Bagatelle op. 119, Nr. 2 C-Dur
Interpreten: Rudolf Serkin (Klavier)
Label: CBS (LC ____)
MPK 44837
<Track 2.> Gesamt-Zeit: 1:05
Archiv-Nummer: ____
Technik: MUSIK einblenden bei
MUSIK ausblenden bei
2:19
3:24

Dem Interpreten flicht die Nachwelt selten Kränze. Schauspieler und Musiker werden nach ihrem Abtreten allzu schnell vergessen. Während das Kunstwerk - das Bild, der Text, die Partitur - Bestand hat, ist seine Deutung der kurzlebigen Mode unterworfen. Und je mehr Aufsehen eine Interpretation im Augenblick erregt, je größer der Medien-Rummel, desto schneller scheint das Ereignis der Darstellung schon morgen vergessen zu sein. Man möchte es fast schon für ein "Naturgesetz" halten, daß die künstlerische Zukunft auf Dauer doch eher den "Stillen im Land" gilt; nicht den selbstverliebten Taktstock-Matadoren, den Virtuosen und Tasten-Akrobaten, sondern den Nachdenklichen - denjenigen, die auch über ihre Zeit hinaus etwas mitzuteilen haben.

Eine bleibende Größe - dazu darf man mittlerweile wohl auch den Pianisten Rudolf Serkin zählen, der vor einem Jahr im Alter von 88 Jahren in seiner Wahlheimat Vermont gestorben ist. Was Serkins Größe ausmacht, ist das Gefühl unbedingter musikalischer Ehrlichkeit, das sein Spiel vermittelt - in den frühen Aufnahmen aus den dreißiger Jahren ebenso wie in den späten Einspielungen der Beethoven-Sonaten Ende der Achtziger. Serkin ging es nie um die Darstellung des eigenen "ego", sondern allein um das Werk. Daß seine Auffassung von Musik in all den Jahren dennoch nicht statisch wirkte, daß sie sich vielmehr dem Lebensalter gegenläufig verhielt: das ist das Faszinierende an Serkins Interpretationen. So abgeklärt, ja bisweilen unterkühlt er in jungen Jahren spielte, so zupackend und vorwärtsdrängend klingen seine Aufnahmen aus den letzten Jahren. Fast ist man geneigt, von "Jugendweisheit" und "Alterswildheit" zu sprechen.

In jedem Falle waren Sentimentalität und selbstversunkene Grübeleien seine Sache nicht. Wenn er etwa Schubert spielte, verwandelten sich selbst die vielgefürchteten "himmlischen Längen" in großangelegte Spannungsbögen - wie etwa in der posthumen A-Dur-Sonate.

Musik-Nr.: 02
Komponist: Franz Schubert
Werk-Titel: Sonate für Klavier A-Dur D 959
Auswahl: 2. Satz (Andantino) <Track 2.> 7:20
Interpreten: Rudolf Serkin (Klavier)
Label: CBS (LC ____)
MPK 45559
<Track 2.> Gesamt-Zeit: 7:20
Archiv-Nummer: ____

Rudolf Serkin wurde 1903 als Sohn eines böhmischen Sängers im böhmischen Eger geboren. Wie bei musikalischen Wunderkindern üblich, beherrschte er das Klavierspielen und Notenlesen, bevor er lesen und schreiben konnte. Es folgte die Ausbildung in Wien - unter anderem mit Kompositionsunterricht bei Arnold Schönberg. Nicht, daß Serkin Schönbergs Musik bewundert hätte - eher im Gegenteil; aber er war fasziniert von der gedanklichen Klarheit, mit der Schönberg seine musikalischen Gedanken und Ideen entwickelte.

Serkins eigenes Bestreben nach Klarheit und unbedingter Ehrlichkeit der Darstellung war es, was Ferruccio Busoni davon abhielt, den 17jährigen als Schüler anzunehmen. Sein einziger Rat damals: "Spielen Sie etwas schmutziger!" - was Serkin zum Glück nie befolgt hat.

Wenige Wochen später lernte Serkin den Geiger Adolf Busch kennen, der damals einen kompetenten Klavierbegleiter suchte: anpassungsfähig, aber nicht unterwürfig. Es war, wie sich herausstellen sollte, für beide die ideale Kammermusik-Partnerschaft, die gut dreißig Jahre hielt - bis zum Tod Adolf Buschs 1952.

Adolf Busch förderte den dreizehn Jahre jüngeren Serkin, wo immer es ging: Er öffnete ihm die internationalen Konzertsäle und Schallplattenstudios; und als die Nationalsozialisten 1933 Rudolf Serkin Auftrittsverbot erteilten wegen seiner jüdischen Abstammung, weigerten sich Adolf Busch und seine Brüder aus Solidarität, weiterhin in Deutschland zu konzertieren.

Im Oktober 1937 spielten Busch und Serkin in London mehrere Violinsonaten auf Schallplatte ein, unter anderem die Mozart-Sonate in F-Dur, Köchel-Verzeichnis 377.

Musik-Nr.: 03
Komponist: Wolfgang Amadeus Mozart
Werk-Titel: Sonate für Klavier und Violine F-Dur, KV 377
Auswahl: 2. Satz (Tema con Variazioni) <CD 1, Tr. 5.> 9:00
Interpreten: Rudolf Serkin (Klavier)
Adolf Busch (Violine)
Label: EMI (LC ____)
CDS 7 54374 2
<CD 1, Tr. 5.> Gesamt-Zeit: 9:00
Archiv-Nummer: ____

Die Erlebnisse nach 1933, als er in Düsseldorf während eines Recitals von Nationalsozialisten ausgepfiffen wurde oder wegen seiner jüdischen Abstammung Auftrittsverbot erhielt, veranlaßten Rudolf Serkin, aus Deutschland zu emigrieren. Wie für viele andere Musiker wurde Amerika seine zweite Heimat. Nicht, daß er Deutschland für immer gemieden hätte: Immer wieder kam er in den sechziger und siebziger Jahren für Konzert-Tourneen zurück. Aber der Mittelpunkt seines Lebens blieb die Gegend um Marlboro, wo er 1950 zusammen mit Adolf Busch ein Kammermusik-Festival gründete.

Das Marlboro-Festival (so wie es ursprünglich konzipiert war) sollte nicht sosehr dem Konzertbetrieb als vielmehr dem kammermusikalischen Arbeiten dienen. Musikstudenten und Profis erarbeiteten sich hier gemeinschaftlich ein Repertoire. Was dann letztlich zur Aufführung gelangte (und ob überhaupt), wurde erst wenige Tage vor dem Konzert entschieden.

In Marlboro entstand 1967 eine der überzeugendsten Einspielungen von Schuberts "Forellenquintett" - mit Rudolf Serkin (Klavier), Jaime Laredo (Violine), Philipp Naegele (Viola), Leslie Parnas (Violoncello) und Julius Levine (Baß).

Musik-Nr.: 04
Komponist: Franz Schubert
Werk-Titel: Forellenquintett
Auswahl: 4. Satz (Thema und Variationen) <Track 4.> 8:15
Interpreten: Rudolf Serkin (Klavier)
Jaime Laredo (Violine)
Philipp Naegele (Viola)
Leslie Parnas (Violoncello)
Julius Levine (Baß)
Label: Sony (LC ____)
SMK 46252
<Track 4.> Gesamt-Zeit: 8:15
Archiv-Nummer: ____
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