Koch: Musikalisches Lexikon

Ausdruck.

<184> Der Ausdruck der Empfindungen in ihren verschiedenen Modifikationen ist der eigentliche Endzweck der Tonkunst, und daher das erste und vorzüglichste Erforderniß eines jeden Tonstückes.

"Ein solches Werk," (sagt Sulzer in der allg. Theorie der schönen Künste) "das blos unsere Einbildungskraft mit einer Reihe harmonischer Töne anfüllt, ohne unser Herz zu beschäftigen, gleicht einem von der untergehenden Sonne schön bemahlten Himmel. Die liebliche Vermischung mannigfaltiger Farben ergötzt uns; aber in den Figuren der Wolken sehen wir <185> nichts, das unser Herz beschäftigen könnte. Bemerken wir aber in dem Gesange, außer der vollkommenen Fortströmung der Töne, eine Sprache, die uns die Aeußerungen eines fühlenden Herzens verräth, so dienet die angenehme Unterhaltung des Gehörs der Seele gleichsam zu einem Ruhebette, auf welchem sie sich allen Empfindungen überläßt, die der Ausdruck des Gesanges in ihr hervorbringt."

Die Aeußerung unserer Empfindungen mit ihren Modifikationen ist nicht das Werk eines Augenblicks, sondern eine Folge von Darstellung dessen, was in unserm Herze vorgehet, successiver Ausbruch der Gefühle, die, auf gewisse Veranlassungen aus ihrem Schlummer geweckt, sich unserer bemeistern. Bey der successiven Darstellung dieser Gefühle lassen sich gewisse Bewegungen wahrnehmen, wodurch sich nicht allein die verschiedenen Empfindungen selbst, sondern auch die verschiedenen Modifikationen einer jeden Empfindung insbesondere, von einander unterscheiden lassen; daher bedienet man sich auch oft zu ihrer allgemeinen Bezeichnung des Ausdruckes Gemüthsbewegungen. Die zärtlichen Empfindungen verweilen bis zu einem gewissen Grade der Sättigung bey allen den Bildern, welche ihnen die geschäftige Einbildungskraft in diesem Seelenzustande herbey zaubert. Die Freude, weniger verweilend bey ihren verschiedenen Modifikationen, hüpft von einem Bilde zum andern in locker an einander gereiheten Vorstellungen. Rache, Zorn und Wuth gleichen dem wilden und unaufhaltsamen Strome, der alles mit sich fortreißt, was sich ihm entgegen stemmt. Der Zirkel ist gleichsam enger, in welchem sich die Modifikationen dieser heftigen Leidenschaften bewegen; die Abstufungen derselben folgen schneller und mit Heftigkeit auf einander, und ein Bild treibt das andere noch unausgemalt der Vorstellung vorüber.

Allein wodurch erlangt der Tonsetzer die Gewalt, solche in den Zuhörern schlummernde Empfindungen blos durch künstliche Mittel, blos durch Verbindung der Töne, <186> zu erwecken?

"Die Natur" (fährt der vorhin schon angezeigte Schriftsteller fort) "muß den Grund zu dieser Herrschaft in seiner Seele gelegt haben. Diese muß sich selbst zu allen Arten der Empfindungen und Leidenschaften stimmen können. Denn nur dasjenige, was er selbst lebhaft fühlt, wird er glücklich ausdrücken."

"Die Musik ist vollkommen geschickt, alle diese Arten der Bewegungen abzubilden, mithin dem Ohr die Bewegungen der Seele fühlbar zu machen, wenn sie nur dem Tonsetzer hinlänglich bekannt sind, und er Wissenschaft genug besitzt, jede Bewegung durch Harmonie und Gesang nachzuahmen. Hiezu hat er Mittel von gar vielerley Art in seiner Gewalt, wenn es ihm nur nicht an Kunst fehlt. Diese Mittel sind:

  1. die bloße Fortschreitung der Harmonie, ohne Absicht auf den Takt, welche in sanften und angenehmen Affekten leicht und ungezwungen, ohne große Verwickelungen und schwere Aufhaltungen; in widrigen, zumal heftigen Affekten aber, unterbrochen, mit öftern Ausweichungen in entferntere Tonarten, mit größern Verwickelungen, viel und ungewöhnlichen Dissonanzen und Aufhaltungen, mit schnellen Auflösungen fortschreiten muß.
  2. Der Takt, durch den schon allein die allgemeine Beschaffenheit aller Arten der Bewegung kann nachgeahmet werden.
  3. Die Melodie und der Rhythmus, welche, an sich selbst betrachtet, ebenfalls allein schon fähig sind, die Sprache aller Leidenschaften abzubilden.
  4. Die Abänderung in der Stärke und Schwäche der Töne, die auch sehr viel zum Ausdrucke beytragen;
  5. Die Begleitung und besonder die Wahl und Abwechslung der begleitenden Instrumente; und endlich
  6. die Ausweichungen und Verweilungen in andern Tönen. Alle diese Vortheile muß der Tonsetzer wohl überlegen, und die Würkung jeder Veränderung mit scharfer Beurtheilung erforschen; dadurch wird er in Stand gesetzt, jede Leidenschaft auf das bestimmteste <187> und kräftigste auszudrücken."

Hieraus siehet man zur Gnüge, wie nothwendig einem Tonsetzer das Studium der Empfindungen sey.

Auf Seiten der Ausführer bestehet der Ausdruck in der richtigen Auffassung der in den Tonstücken enthaltenen Empfindungen und Ideen des Tonsetzers, und in dem diesen Empfindungen entsprechenden Vortrage der Haupt- und Nebenstimmen. Beyde Erfordernisse des Ausdruckes auf Seiten der Ausführer pflegt man überhaupt den guten Vortrag zu nennen. Siehe Vortrag.

zurück
nach oben