<677> Die Regeln, nach welchen in der Setzkunst die Töne <678> und Akkorde an einander gereihet werden müssen, wenn die Tonverbindungen einzelner Sätze der Natur der Töne und Tonarten, und dem vortheilhaftesten Gebrauche derselben, der von vielen guten Tonsetzern aus langer Erfahrung erprobt, und von ganzen Nationen, unter welchen ein feiner Geschmack herrscht, anerkannt worden ist, entsprechen sollen. Von einem Tonstücke, in welchem diese Regeln befolgt sind, sagt man, es sey grammatisch richtig.
Die Grammatik macht den ersten Haupttheil der Setzkunst aus, welcher wieder in drey besondere Theile oder Abschnitte zerfällt. In dem ersten Abschnitte wird gehandelt,
Der zweyte Abschnitt beschäftigt sich mit der Lehre von der Harmonie, oder mit der Verbindung der Töne zu Akkorden, und mit der <679> richtigen Abwechslung dieser Akkorde, und enthält
Der dritte Abschnitt der Grammatik enthält die Regeln der melodischen Tonverbindungen. Weil dieser besondere Theil der Grammatik seine völlige Ausbildung noch nicht erlangt hat, und weil überdies der zweyte Haupttheil der Setzkunst, der von einigen die Rhetorik genannt wird, in welchem gezeigt wird, wie die grammatischen Regeln zum Ausdrucke der Empfindungen angewendet werden müssen, noch nicht wissenschaftlich genug bearbeitet worden ist, so pflegt man in die Lehre von der Melodie auch einige solche Gegenstände aufzunehmen, die eigentlich in die Rhetorik der Setzkunst gehören. Man handelt in der Lehre von der Melodie
Zu diesen drey Haupttheilen der Grammatik rechnet Forkel [FN: In der Einleitung zu seiner allg. Geschichte der Musik, S. 26] noch folgende drey Hülfswissenschaften:
Es fehlt nicht an Tonkünstlern, die viel natürliche Anlage zur Komposition haben, denen aber die Grammatik eine Bürde ist, deren sie sich zu entledigen suchen, weil ihnen Mangel an Uebungen im Contrapunkte die Befolgung ihrer Regeln erschweren. Um diese Blöße zu decken, beruft man sich auf die Erfahrung, daß es einem Tonstücke, in welchem diese Regeln auf das strengste befolgt sind, dennoch an ästhetischem Werthe gänzlich mangeln könne, und daß man im Gegentheile vielen Kunstwerken ihren ästhetischen Werth nicht absprechen könne, sollten auch gleich in denselben diese Regeln vernachläßiget worden seyn. Läßt sich aber wohl aus diesen Prämissen, wie oft geschieht, die Folge ziehen, daß grammatische Richtigkeit des Satzes ein bloßes Traumbild verjährten Eigensinnes sey? Junge Tonkünstler, die oft allzu geneigt sind, dergleichen Bürden abzuschütteln, oder zu glauben, daß die Regeln das Genie einschränken, müssen sich hüten, daß sie nicht durch solche Scheingründe auf Irrwege gerathen; denn Behauptungen dieser Art sind immer Folgen eines auf Abwegen irrenden Kunstgefühls.
Grammatische Richtigkeit und aesthetischer Werth sind in einem <682> Tonstücke zwey ganz verschiedene Gegenstände; jene ist Folge des Fleißes und der Bildung in der niedern Klasse der Schule der Kunst, dieser aber ist Ausfluß des von gutem Geschmacke unterstützten Genies. [FN: Siehe Komposition.]
"Es giebt eine Klasse von Kunstwerken", sagt Forkel (in der Einleitung zu seiner Geschichte der Musik) "denen man gewisse hervorstechende Schönheiten nicht absprechen kann, die aber dennoch die Forderungen der Kritik nicht in allen Fällen befriedigen. Bey dieser Art von Stücken ist zweyerley zu bemerken: 1) daß sie gerade da, wo sie schön sind, genau mit den Regeln der Kritik übereinstimmen; und 2) noch weit schöner seyn würden, wenn diese Regeln durch das ganze Werk hindurch befolgt wären. Solche Werke gefallen daher nicht deswegen, weil sie neben den Schönheiten auch Fehler enthalten, sondern weil die Schönheiten derselben, die mit den richtigen Grundsätzen der Kunst vollkommen übereinstimmen, so hervorstechend sind, daß sie das Mißvergnügen, welches die neben ihnen befindlichen Fehler erregen würden, zu unterdrücken und zu überwiegen vermögen. Wie viel größer würde aber die Wirkung solcher Stücke seyn, wenn die Kraft ihrer Schönheiten nicht durch die damit contrastirenden Fehler geschwächt würde?"
Ueberhaupt genommen, hat es mit den Fehlern wider die Grammatik in der Musik die nemliche Bewandniß, wie in der Sprache; das Gefühl des Kenners wird durch solche Fehler beleidigt. Eben deswegen verlangt man, daß derjenige, der uns Kunstwerke, es sey nun vermittelst der Sprache des Verstandes, oder es sey vermittelst der Sprache der Empfindung, darstellet, den mechanischen Theil der Ausdrucksmittel seiner Kunst völlig in seiner Gewalt habe. Was würde man von dem Dichter sagen, der in einer Sprache dichten wollte, deren Theile richtig zusammen zu setzen er noch nicht im Stande ist? Und welche Gründe sollten wohl den <683> Tonsetzer berechtigen, bey der Verbindung seiner Ausdrucksmittel weniger pünktlich zu seyn?
Kurz, bey Kunstwerken, in welchen die grammatischen Regeln vernachläßiget sind, wird das Gefühl des Kenners in einen mißbehaglichen Zustand versetzt, es fühlt sich mitten im Genusse des Kunstwerks gleichsam gedrungen, diese Anstößigkeiten zu verbessern; und dieses wird ihm ein Hinderniß, und raubt ihm in einem gewissen Grade den Genuß desselben.