Koch: Musikalisches Lexikon

Grammatik.

<677> Die Regeln, nach welchen in der Setzkunst die Töne <678> und Akkorde an einander gereihet werden müssen, wenn die Tonverbindungen einzelner Sätze der Natur der Töne und Tonarten, und dem vortheilhaftesten Gebrauche derselben, der von vielen guten Tonsetzern aus langer Erfahrung erprobt, und von ganzen Nationen, unter welchen ein feiner Geschmack herrscht, anerkannt worden ist, entsprechen sollen. Von einem Tonstücke, in welchem diese Regeln befolgt sind, sagt man, es sey grammatisch richtig.

Die Grammatik macht den ersten Haupttheil der Setzkunst aus, welcher wieder in drey besondere Theile oder Abschnitte zerfällt. In dem ersten Abschnitte wird gehandelt,

  1. von dem Zusammenhange des Vorrathes aller in der Musik gebräuchlichen Töne, das ist, von dem vollständigen Tonsysteme;
  2. von den in demselben enthaltenen verschiedenen Klanggeschlechten; --
  3. von den aus dem vollständigen Tonsysteme gebildeten Tonarten und Tonleitern;
  4. von der Verschiedenheit der Stufen der Tonleitern, oder von den Intervallen, und
  5. von der Verschiedenheit der Intervallen in Rücksicht auf ihren Wohl- oder Uebellaut, oder von den Consonanzen und Dissonanzen.

Der zweyte Abschnitt beschäftigt sich mit der Lehre von der Harmonie, oder mit der Verbindung der Töne zu Akkorden, und mit der <679> richtigen Abwechslung dieser Akkorde, und enthält

  1. die Kenntniß der harmonischen Dreyklänge mit ihren Umkehrungen;
  2. die Kenntniß der dissonirenden Stammakorde mit ihren Umkehrungen;
  3. die Vorausnahme und Aufhaltung der Harmonie, oder die Anticipation und Retardation, und
  4. die richtige Fortbewegung der Intervallen bey der Verbindung der Akkorde, oder die richtige Fortbewegung der Consonanzen, und die Vorbereitung und Auflösung der Dissonanzen.
  5. Die Verbindung und Abwechslung der Akkorde, oder den Contrapunkt, der wieder seine besondern Eintheilungen enthält, und hauptsächlich in den einfachen und doppelten Contrapunkt unterschieden wird.

Der dritte Abschnitt der Grammatik enthält die Regeln der melodischen Tonverbindungen. Weil dieser besondere Theil der Grammatik seine völlige Ausbildung noch nicht erlangt hat, und weil überdies der zweyte Haupttheil der Setzkunst, der von einigen die Rhetorik genannt wird, in welchem gezeigt wird, wie die grammatischen Regeln zum Ausdrucke der Empfindungen angewendet werden müssen, noch nicht wissenschaftlich genug bearbeitet worden ist, so pflegt man in die Lehre von der Melodie auch einige solche Gegenstände aufzunehmen, die eigentlich in die Rhetorik der Setzkunst gehören. Man handelt in der Lehre von der Melodie

  1. von der melodischen Verbindung einzelner Töne, oder von der Tonführung;
  2. von den Tonfüßen und Figuren;
  3. von der Aehnlichkeit der Tonfüße bey ihrer Verbindung, oder von dem Metrum;
  4. von der Eintheilung derselben nach abgemessenen Zeiten, oder vom Takte und dessen verschiedenen Arten und Gattungen;
  5. <680> von der Ausweichung einer Tonart in andere Tonarten, oder von der Modulation;
  6. von der Beschaffenheit der Endigungsart dieser melodischen Theile, oder von den Einschnitten, Absätzen und Schlußfällen;
  7. von der rhythmischen Beschaffenheit, oder von der Vergleichung des Umfanges dieser melodischen Theile;
  8. von der Verbindung der einzelnen melodischen Theile zu Perioden, oder von dem Periodenbaue, und
  9. von den Formen der Tonstücke.

Zu diesen drey Haupttheilen der Grammatik rechnet Forkel [FN: In der Einleitung zu seiner allg. Geschichte der Musik, S. 26] noch folgende drey Hülfswissenschaften:

  1. Die Akustik (Schallehre). Diese erklärt:
     
    1. die Entstehungsart des Klanges überhaupt;
    2. die Entstehungsart verschiedener Gattungen desselben insbesondere;
    3. die Dauer; und
    4. die Ausbreitung und Fortpflanzung desselben;
    5. den Wiederschall, (Echo) nebst den verschiedenen Gattungen desselben;
    6. die Sympathie der Töne;
    7. akustische Phänomene.
       
  2. Die Canonik. (Eintheilungslehre der Klänge.) Diese lehrt:
     
    1. die Ausmessung der Tongrößen überhaupt;
    2. ihre Bildung zu ordentlichen Tönen und abgemessenen Intervallen insbesondere;
    3. die verschiedenen Gattungen von Intervallen;
    4. die Temperatur;
    5. den Einfluß der Akustik und Canonik auf die Instrumentenbaukunst.
       
  3. Die musikalische Zeichenlehre. (Semeiographie.) Sie erklärt:
     
    1. die Liniensysteme, auf und zwischen welche die eigentlichen Zeichen der Töne gesetzt werden;
    2. <681> die Schlüssel zu den Liniensystemen, nebst den natürlichen Ursachen ihres Unterschieds;
    3. c) die Noten als eigentliche Zeichen der Töne, in so fern sie Höhe und Dauer derselben bezeichnen;
    4. die Schweigezeichen; (Pausen)
    5. die Erhöhungs- Erniedrigungs- Wiederherstellungs- und Wiederholungszeichen;
    6. die Bogen, Striche und Punkte, nebst allem, was noch außerdem dazu gehört, einen musikalischen Gedanken fürs Gesicht genau so zu bezeichnen, wie er durch die Ausführung dem Ohre hörbar gemacht werden soll;
    7. die musikalische Orthographie. (Rechtschreibung.)

Es fehlt nicht an Tonkünstlern, die viel natürliche Anlage zur Komposition haben, denen aber die Grammatik eine Bürde ist, deren sie sich zu entledigen suchen, weil ihnen Mangel an Uebungen im Contrapunkte die Befolgung ihrer Regeln erschweren. Um diese Blöße zu decken, beruft man sich auf die Erfahrung, daß es einem Tonstücke, in welchem diese Regeln auf das strengste befolgt sind, dennoch an ästhetischem Werthe gänzlich mangeln könne, und daß man im Gegentheile vielen Kunstwerken ihren ästhetischen Werth nicht absprechen könne, sollten auch gleich in denselben diese Regeln vernachläßiget worden seyn. Läßt sich aber wohl aus diesen Prämissen, wie oft geschieht, die Folge ziehen, daß grammatische Richtigkeit des Satzes ein bloßes Traumbild verjährten Eigensinnes sey? Junge Tonkünstler, die oft allzu geneigt sind, dergleichen Bürden abzuschütteln, oder zu glauben, daß die Regeln das Genie einschränken, müssen sich hüten, daß sie nicht durch solche Scheingründe auf Irrwege gerathen; denn Behauptungen dieser Art sind immer Folgen eines auf Abwegen irrenden Kunstgefühls.

Grammatische Richtigkeit und aesthetischer Werth sind in einem <682> Tonstücke zwey ganz verschiedene Gegenstände; jene ist Folge des Fleißes und der Bildung in der niedern Klasse der Schule der Kunst, dieser aber ist Ausfluß des von gutem Geschmacke unterstützten Genies. [FN: Siehe Komposition.]

"Es giebt eine Klasse von Kunstwerken", sagt Forkel (in der Einleitung zu seiner Geschichte der Musik) "denen man gewisse hervorstechende Schönheiten nicht absprechen kann, die aber dennoch die Forderungen der Kritik nicht in allen Fällen befriedigen. Bey dieser Art von Stücken ist zweyerley zu bemerken: 1) daß sie gerade da, wo sie schön sind, genau mit den Regeln der Kritik übereinstimmen; und 2) noch weit schöner seyn würden, wenn diese Regeln durch das ganze Werk hindurch befolgt wären. Solche Werke gefallen daher nicht deswegen, weil sie neben den Schönheiten auch Fehler enthalten, sondern weil die Schönheiten derselben, die mit den richtigen Grundsätzen der Kunst vollkommen übereinstimmen, so hervorstechend sind, daß sie das Mißvergnügen, welches die neben ihnen befindlichen Fehler erregen würden, zu unterdrücken und zu überwiegen vermögen. Wie viel größer würde aber die Wirkung solcher Stücke seyn, wenn die Kraft ihrer Schönheiten nicht durch die damit contrastirenden Fehler geschwächt würde?"

Ueberhaupt genommen, hat es mit den Fehlern wider die Grammatik in der Musik die nemliche Bewandniß, wie in der Sprache; das Gefühl des Kenners wird durch solche Fehler beleidigt. Eben deswegen verlangt man, daß derjenige, der uns Kunstwerke, es sey nun vermittelst der Sprache des Verstandes, oder es sey vermittelst der Sprache der Empfindung, darstellet, den mechanischen Theil der Ausdrucksmittel seiner Kunst völlig in seiner Gewalt habe. Was würde man von dem Dichter sagen, der in einer Sprache dichten wollte, deren Theile richtig zusammen zu setzen er noch nicht im Stande ist? Und welche Gründe sollten wohl den <683> Tonsetzer berechtigen, bey der Verbindung seiner Ausdrucksmittel weniger pünktlich zu seyn?

Kurz, bey Kunstwerken, in welchen die grammatischen Regeln vernachläßiget sind, wird das Gefühl des Kenners in einen mißbehaglichen Zustand versetzt, es fühlt sich mitten im Genusse des Kunstwerks gleichsam gedrungen, diese Anstößigkeiten zu verbessern; und dieses wird ihm ein Hinderniß, und raubt ihm in einem gewissen Grade den Genuß desselben.

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