Koch: Musikalisches Lexikon

Melodie.

<940> Man bezeichnet damit theils eine Folge der Töne überhaupt, theils und insbesondere eine solche Tonreihe, die aus abwechselnden Stufen einer zum Grunde liegenden Tonart bestehet, in eine bestimmte Taktart eingetheilt ist, und gewisse Ruhepunkte des Geistes enthält, wodurch sie in einzelne Glieder aufgelöset werden kann.

Genau genommen sind in einem Tonstücke eben so viel Melodien enthalten, als verschiedene Hauptstimmen dabey vereinigt sind. Von diesen besondern Melodien, die eigentlich nur die Begleitung einer einzigen Hauptstimme ausmachen, und die zusammen vereint die Harmonie des Tonstückes bilden, ist die Rede nicht, wenn von der Melodie als von einem der beyden Haupttheile der Musik die Rede ist, sondern man verstehet in diesem Falle <941> darunter bloß die Tonfolge derjenigen Stimme, das ist, diejenige Melodie, die es insbesondere mit dem Ausdrucke dieser oder jener Empfindung zu thun hat, und welcher die übrigen vorhandenen Stimmen bloß zur Begleitung und Unterstützung dienen. Schon hieraus folgt, daß die Melodie das Wesentliche jedes Tonstückes sey, und daß ihr die Harmonie, so wichtig auch die Vortheile sind, die sie gewährt, und so sehr auch durch dieselbe die Ausdrucksmittel der Kunst vermehrt werden, dennoch untergeordnet werden müsse. Es ist daher unnöthig, hier in den ehedem mehrmals in Bewegung gebrachten Streit, über den Werth der Melodie und Harmonie, einzugehen, weil ohnehin von dem wichtigsten Gesichtspunkte, aus welchem man die Streitfrage betrachtet hat, schon in dem Artikel Harmonie gehandelt worden ist.

"Das Wesen der Melodie" (sagt Sulzer) [FN: Allg. Theorie der schönen Künste, Art. "Melodie"] "bestehet in dem Ausdrucke. Sie muß allemal irgend eine leidenschaftliche Empfindung, oder eine Laune schildern. Jeder, der sie hört, muß sich einbilden, er höre die Sprache eines Menschen, der, von einer gewissen Empfindung durchdrungen, sie dadurch an den Tag leget. In sofern sie aber ein Werk der Kunst und des Geschmacks ist, muß diese leidenschaftliche Rede wie jedes andere Werk der Kunst, ein Ganzes ausmachen, darin Einheit und Mannigfaltigkeit verbunden ist; dieses Ganze muß eine gefällige Form haben, und sowohl überhaupt, als in einzelnen Theilen so beschaffen seyn, daß das Ohr des Zuhörers beständig zur Aufmerksamkeit gereizt werde, und ohne Anstoß, ohne Zerstreuung, den Eindrücken, die es empfängt, sich mit Lust überlasse. Jeder Gesang, der diese doppelte Eigenschaft hat, ist gut; der, dem sie im Ganzen fehlen, ist völlig schlecht, und der, dem sie in einzelnen Theilen fehlen, ist fehlerhaft."

<942> - Soll sich die Melodie als Ausdruck der Empfindung und zugleich als der Haupttheil eines musikalischen Kunstprodukts behaupten, so muß sie folgende Eigenschaften besitzen;

  1. die Tonreihe, woraus sie bestehet, muß eine bestimmte Tonart zum Grunde haben; denn ohne diese Eigenschaft können die Töne einer Melodie keinen Zusammenhang unter einander erhalten. (Siehe Modulation.)

Es ist schon in verschiedenen Artikeln dieses Werkes erinnert worden, daß jede Tonart ihren eigenen Charakter habe; daher ist es nichts weniger als gleichgültig, welcher Tonart sich der Tonsetzer zum Ausdrucke dieser oder jener Empfindung bediene. Um daher in diesem Stücke keinen Mißgriff zu thun, ist es nothwendig, daß sich der Tonsetzer die Eigenschaften der Tonarten bekannt mache. Der Unterschied, der sich zwischen den zwölf harten Tonarten sowohl als zwischen den zwölf weichen befindet, hat seinen Grund in der ungleichschwebenden Temperatur, durch welche veranlaßt wird, daß die große oder kleine Terz eines Grundtones bald mehr bald weniger von ihrem ursprünglich reinen Verhältnisse abweicht. [FN: Siehe Temperatur und Tonart] Bey der Instrumentalmusik trägt auch noch überdies die besondere Beschaffenheit der Instrumente sehr viel zu diesem Unterschiede der Tonarten bey, so klingt z.B. eine Melodie in der Tonart f durch auf der Flöte und Violine weit matter, als in der Tonart g dur u.s.w.

Außerdem muß auch die Tonart, in welche eine Melodie gesetzt wird, sogleich im Anfange des Satzes genugsam durch die wesentlichen Saiten der Tonart dem Ohre eingeprägt werden, damit es über die Wahl derselben nicht zweifelhaft bleibe.

  1. Muß die Melodie aus einer bestimmten Folge von Tonfüßen bestehen, das heißt, sie muß in eine bestimmte Taktart eingekleidet seyn. Die Nothwendigkeit dieser Eigenschaft der <943> Melodie wird in dem Artikel Rhythmus insbesondere erklärt.

Die Melodie muß

  1. aus Gliedern bestehen, die sich durch mehr oder weniger fühlbare Ruhepunkte des Geistes unterscheiden. So wenig eine Rede unserm Verstande faßlich seyn kann, wenn die einzelnen Redesätze, wodurch die Begriffe ausgedrückt werden, nicht in einer gewissen Ordnung auf einander folgen, und nicht durch Ruhepunkte des Geistes von einander abgesondert sind, eben so wenig faßlich ist unserm Gefühle eine Folge von Tönen, die nicht in kleinere und größere Glieder zerfällt, die sich durch verschiedene Arten von Ruhepunkten des Geistes, die man Einschnitte, Absätze und Cadenzen nennet, unterscheiden. Daher muß die Melodie, so wie die Rede, aus verschiedenen Perioden bestehen, die sich wieder in einzelne Sätze auflösen lassen. Mit diesem wichtigen Gegenstande oder mit dieser Einrichtung der Melodie beschäftigt sich die sogenannte Takt- und Tonordnung, oder die Lehre von dem melodischen Periodenbaue. Siehe die Artikel Absatz, Periodenbau, Taktordnung und Tonordnung.
  1. Muß die Melodie, nachdem dem Ohre durch einige Sätze derselben die Tonart, in welcher sie gesetzt ist, genugsam eingeprägt worden ist, auch in andere Nebentonarten ausweichen, damit die einzelnen Töne, woraus sie bestehet, eine Mannigfaltigkeit an Beziehungen auf einander erhalten. Wenn die Melodie stets in einer und ebenderselben Tonart fortmoduliren sollte, so würden alle Töne immer eben dieselbe Beziehung auf einander behalten; dabey würde die Aufmerksamkeit nicht allein sehr bald ermüden, sondern es würde auch an Hülfsmitteln mangeln, <944> die auszudrückende Empfindung in ihren verschiedenen Modifikationen darzustellen. Man ist daher gewohnt, aus der zum Grunde gelegten Tonart in andere mit dieser Tonart verwandte Tonarten auszuweichen. Dieser Wechsel der Tonarten darf aber nicht so beschaffen seyn, daß dabey die Haupttonart gänzlich aus der Vorstellung verloren, und die Einheit des Ganzen zerstört wird. Daher muß das Tonstück nicht allein in eben derselben Tonart schließen, in welcher es angefangen worden ist, sondern die Modulation muß eigentlich auch , nachdem sie aus dem Haupttone in eine andere Tonart übergegangen ist, erst wieder in den Hauptton zurückgehen, ehe sie von neuem in eine andere verwandte Tonart desselben übergehet. Siehe Ausweichung.

Die Melodie muß auch

  1. so beschaffen seyn, daß sie einer mannigfaltig abwechselnden, und der Beschaffenheit ihres Ausdruckes angemessenen Harmonie fähig ist. Diese nothwendige Eigenschaft der Melodie hängt von nichts weniger, als von einem blinden Zufalle ab, sondern setzt Bekanntschaft mit der Harmonie und hinlängliche Uebung in derselben voraus. Daher ist man auch genöthigt, den Anfang zur Erlernung der Komposition mit dem harmonischen Theile derselben zu machen.

Von der Melodie insbesondere handelt Nichelmann in dem Werke: die Melodie nach ihrem Wesen sowohl, als nach ihren Eigenschaften. Danz. 1755. in 4. - Von dem Periodenbaue oder von der sogenannten Takt- und Tonordnung handeln insbesondere die vier ersten Kapitel des Werkes von Riepel unter dem allgemeinen Titel: Anfangsgründe zur musikalischen Setzkunst.1-

<945> Ueber den sämmtlichen mechanischen Theil der Melodie, nemlich über Tonführung, Modulation, Takt und Periodenbau verbreiten sich die beyden letzten Theile meiner Anleitung zur Komposition.

Fußnoten:

Fußnote 1 (Sp. 943/944):

Diese vier Kapitel sind zu verschiedenen Zeiten unter folgenden besondern Titeln herausgekommen: De Rhythmopoeia, oder von der Taktordnung. Zweyte Aufl. Regensburg 1754. - Zweytes Kap. Grundlegung zur Tonordnung insgemein u.s.w. Frankf. und Leipz. 1757. - Drittes Kap. Gründliche Erklärung der Tonordnung insbesondere, Frankf. und Leipz. 1757. - Viertes Kapit. Erläuterung der betrüglichen Tonordnung. Augsb. 1765.

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