Kullak: Ästhetik des Klavierspiels

Vorwort zur vierten bis sechsten Auflage.

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[Zitiert nach dem Text der 8. Auflage (1920)]

<XII> Die Neuauflage von Adolph Kullaks "Ästhetik des Klavierspiels" in meiner Redaktion ist bereits nach zehn Jahren nötig geworden. Als die vierte Auflage 1906 erschien, stand die moderne, psycho-physiologische Methodik des Klavierspiels der Deppe-Caland-Lehre, des Breithauptschen Arm- und Gewichtsspiels, der Clark-, Jaell-, Leschetizky-Methoden usw. im Vordergrunde eines geradezu sensationellen Interesses. Entzückt ob der berauschenden Entdeckungen der wahren Kraftquellen des Klavierspiels, schüttete man das Kind mit dem Bade aus und verurteilte alles, was methodisch auf älterem, psychologisch nicht urbar gemachtem Boden stand, in Bausch und Bogen. Die Schwierigkeit, den durchaus auf älterem Boden stehenden methodischen Teil dieser Ästhetik mit den modernen Anschauungen wenigstens einigermassen in Einklang zu bringen, war erheblich viel grösser, als die Notwendigkeit. Ich stellte irrtümlich die Notwendigkeit über die Schwierigkeit, und so gab ich meiner damaligen Neuausgabe vielfach ein fremdes und manchem in der scheinbar einseitigen Parteinahme für die moderne Methodik mit Recht sehr unerwünschtes Gesicht. Vom zweiten Teile ab musste das Buch in Text und Fussnote logischerweise mit zwei Zungen reden.

Die neun Jahre haben mich immer mehr überzeugt, dass, da ich die moderne, einseitig physiologisch aufgebaute Klaviermethodik als Extrem der Revolution gegenüber dem Extrem der Reaktion der älteren Methodik und als eine notwendige, aber ebenso notwendig vorübergehende Erscheinung ansehe, diese Pflicht ihrer Einarbeitung in die ältere Methodik nicht mehr vorliegt. Diese fünfte Auflage darf vielmehr, bei allen selbstverständlichen Bereicherungen, Ergänzungen und vorsichtigen Modernisierungen als die Wiedergeburt des Kullakschen Originals bezeichnet werden. Daraus ergeben sich die Folgerungen hinsichtlich der Arbeit des Herausgebers. Sie stellt das zweite, in der vorigen Auflage aus einer Geschichte der Klaviervirtuosität in eine solche der Klaviermusik (Klavierkomposition) ausgeartete Kapitel mit den nötigen Ergänzungen zur Gegenwart hinüber wieder her. Sie arbeitet das dritte Kapitel unbeschadet aller weiteren, teilweise erheblichen Bereicherungen in alter und neuer Zeit (Marpurg, Wolf, Bemetzrieder, Petri, Milchmeyer, Crelle, Berg, Frantz, Schilling, Eisenstein-Tunner, Schneider, Riemann, Germer, Köhler-Nachfolge, Willborg u.a.), durch Striche und teilweise übersichtlichere Gruppierung in seiner grossen inneren und äusseren <XIII> Entwicklung aufs Schärfste heraus und fasst die gesamte moderne physiologische Methodik zur textlichen Einheit zusammen. Der Umfang ihrer auf die früheren ausführlichen Exzerpte ganz verzichtenden Darstellung entspricht ihrem inneren Wert; er war zudem durch die absolute Notwendigkeit bedingt, ihre ins Ungeheuere gewachsene Literatur aus Rücksichten des Raumes auf die entscheidenden Hauptwerke zurückzuführen.

Dementsprechend wurden alle, die moderne Methodik der älteren Kullakschen gegenüberstellenden Fussnoten in den methodischen Kapiteln des zweiten Teiles auf das alleräusserste Mass beschränkt, das klaviermethodische wie das klavierästhetische System Kullaks abermals möglichst unangetastet gelassen. Dieser ganze, methodisch-ästhetische zweite Teil des Buches wurde gründlich durchgesehen und an vielen Stellen (Pedallehre u. a.) sorgfältig ergänzt. Das Register wurde neu bearbeitet.

So gehe nun "das beste Buch über Klavierspiel", die klassische Klavier-Ästhetik zum fünften Male, und diesmal in ihrer reinen Gestalt und Anlage, in die Welt. Möchte sie zu ihrem Teile den in unsrer technisch-materialistisch gerichteten Zeit mangels ernsthafter Pflege edler Hausmusik vielfach schon verloren gegangenen Sinn für eine vergeistigte ästhetische Auffassung und Ausübung unserer herrlichen Klavierspielkunst immer mehr heben, schärfen und verfeinern.

Leipzig, Sommer 1916

Walter Niemann.

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