Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

S. 72 - Texterweiterung der 8. Auflage (1920)

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[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

J.P. Milchmeyer: Die wahre Art, das Piano-Forte zu spielen

<*69> Gleich der Türkschen Klavierschule besonders wichtig nach seiten der Manieren- und der Affektenlehre ist des Kurfürsten von Bayern, vorher 18 Jahre in Paris und Lyon ansässigen und darum von französischer Klaviermethodik und Aesthetik nicht unbeeinflussten Hofmechanicus, Klavier- und Harfenmeister

J. P. Milchmeyers "Die wahre Art, das Piano-Forte <*70> zu spielen. Dresden (Selbstverlag) und Frankfurt a. M. (in Commission bei J. P. Streng) 1797.

Das in 6 Kapitel -

  1. Die Haltung des Körpers, des Armes, der Hand und der Finger,
  2. Von den Veränderungen der Finger,
  3. Von den Manieren,
  4. Vom musikalischen Ausdruck,
  5. Von der Kenntniss und Veränderung des Pianoforte,
  6. Einige allgemeine Bemerkungen -

getheilte Werk will keinen Elementarunterricht, sondern eine möglichst kurze, dabei aber gründliche und deutliche Anleitung geben, "wie man das Pianoforte, mit allen seinen Veränderungen, und nach dem gegenwärtigen Geschmacke, ohne Meister spielen lernen könne". Dieser Geschmack hat sich (III, S. 37) in sehr vielen Stücken seit zwanzig Jahren verbessert - das lässt auf die Mannheimer und Wiener Klassiker schliessen -, und "so schreiben jetzt die grössten Komponisten alle Auszierungen ihrer Tonstücke, meistens mit grossen gewöhnlichen Noten, nach dem wahren Werthe, den jede erhalten soll". Milchmeyer handelt darum in Anlehnung an den, auch in der Fassung des Titels seiner Klavierschule durchblickenden Ph. E. Bach an Marpurg und Türk, nur noch die wesentlichen Manieren ausführlicher ab und giebt dabei nur hinsichtlich des TrilIers Eignes ("Will man ihn gut lernen, so muss man ihn anfangs mit einer Anzahl Noten, und in ganz gleicher Bewegung sehr langsam schlagen, und dabei dem Arme oder dem Gelenke der Hand nicht die geringste Steife oder Stärke geben ..." Bei sehr langen Trillern wechsele man geschickt die Finger mitten im Triller, doch nie mit zweitem und viertem Finger ... (S. 42). "Es giebt Triller, die bei der geschriebenen Note anfangen, die meisten aber fangen gewöhnlich mit dem Tone über der vorgeschriebenen Note an [vgl. dagegen später Hummel!], die gezierten ausgenommen, von denen man sehr viele mit der vorgeschriebenen Note anfängt." - Man hat ferner offene und geschlossene oder zugemachte Triller. In den heruntergehenden Gängen, oder auf Noten von geringem Werthe, macht man sie selten, aber in halben Takt und Viertelnoten fast allemal zu".) Im Gegensatz zu Türk braucht (S. 44) die - aus dem Stegreif nur geübten Spielern überlassene - Verzierung der Kadenzen durch Akkorde, Gänge, Manieren und Läufe mit dem Stück thematisch-motivisch in keiner Verbindung zu stehen und den vorhergespielten Gängen nicht im geringsten zu gleichen. Milchmeyer hat in Konzertsälen von grossen Künstlern wohl zehn Minuten (!) lange Kadenzen gehört und konstatiert das Nachlassen der "Kadenzenraserei". Diese grossen Künstler aber sind - man muss sich das aus seiner Schule zusammensuchen - nicht etwa Haydn und Mozart, sondern Steibelt, Clementi, Pleyel und Kozeluch.

In der sehr hübsch und anschaulich gegebenen Affektenlehre, deren Wort er freilich nicht nennt, paraphrasiert er im 4. Kapitel "Vom musikalischen Ausdruck" im wesentlichen Ph. E. Bachs und Türks Gedanken. Voraussetzung eines vollkommenen Ausdrucks im Spiel bleibt die technische Fertigkeit: "Dann erst darf man daran denken, auch mit Gefühl und Ausdruck spielen zu wollen, welches freilich unendlich mehr ist, als blosse Fertigkeit. Es giebt viele fertige Spieler, allein nicht jeder derselben gehört in die Zahl der Auserwählten <*71> und ist im Besitze dieses Schatzes. Diejenigen aber, welchen die Natur einen Funken dieses göttlichen Feuers einhauchte, werden durch fleissiges Studium und mit Hülfe der besten und charakteristischen Werke der grössten Tonsetzer, jenen Funken zu einem Feuer anfachen, ihre Zuhörer erwärmen, und bei ihnen durch ihr Spiel nicht nur die angenehmsten und sanftesten Gefühle, sondern jede Leidenschaft erwecken können. Der Spieler, der auf diese Kunst Anspruch macht, muss aber ein Kenner des menschlichen Herzens sein, muss gleich dem Schauspieler alle Gefühle und Leidenschaften desselben kennen und selbst im hohen Grade empfinden, muss während seines Spieles immer auf die Schaubühne des menschlichen Lebens sich hindenken, vom Charakter eines Stücks, vom Anfange bis an das Ende desselben nicht im geringsten abweichen, dann wird es ihm gelingen, durch sein Spiel alles das auszudrücken, was der Dichter durch Worte, der Maler durch Farben darzustellen sucht." Bei öffentlichem Spiel wird man ein zu schwaches pp wie ein zu starkes ff vermeiden, langwerthige Akkorde und ausgehaltene Oktaven stärker anschlagen.

Bei täglich etwa achtstündigem Studium wird der Schüler bei frühzeitiger Unterweisung im Klavierspiel die Vollkommenheit erreichen (S. 72). "Diese Vollkommenheit besteht dann darin, dass die Finger beider Hände, sowohl in der Stärke, als in der Bewegung völlige Gleicheit haben, dass die Stellung der Hand vollkommen, und der Fingersatz unveränderlich sei, dass man eine grosse Fertigkeit besitze, alle schweren musikalischen Gänge, mit welcher Hand es sei, eben so geschwind als leicht machen, und eine ganze Seite Musik in jedem Schlüssel augenblicklich übersehen und eintheilen, auch seinem Spiele Geschmack geben zu können. Dazu kommt noch eine vollkommene Kenntniss des Instruments mit allen darauf möglichen Veränderungen."

J.C.F. Rellstab: Anleitung für Clavierspieler

Ein Jahr später wie Türk fällt das Erscheinen der oben (S. 53) bereits erwähnten kleinen Rellstabschen "Anleitung".

Sie giebt Ph. E. Bachs, des "grossen Bachs" Anfangsstücke mit veränderten Reprisen in 1. Aufl., aus jedem Stück zwei machend, heraus und begleitet sie mit einigen, die Elementartheorie und -Praxis des Klavierspiels betreffenden kurzen Ausführungen über Fingersetzung, Manieren und Vortrag, auch äusserlich hierin Ph. Em. Bachs Klavierschule und Wolf folgend. Als Instrumente für den Anfänger, bei dem man in der Wahl der Stücke auf seine "schwachen oder starken Nerven" Rücksicht nehmen muss, eignen sich am besten Flügel und Klavier (Clavichord), dann erst das Pianoforte, dabei ist im Unterricht und den Anforderungen wohl zwischen künftigen Musikern und Liebhabern dieser Kunst, die nur gut Notenlesen, Taktkenntniss und einige Tonleitern bei eingestreuten Singstücken zu lernen brauchen, zu scheiden. Rellstabs Ausführungen über den Vortrag sind knapp und kommen über schon Bekanntes, über die selbstverständlichen Forderungen, die dynamischen Phrasierungs-, Pausen- usw. zeichen genau zu beobachten, nicht heraus. Das tempo rubato will Rellstab schon mit Chopin so ausgeführt sehen, dass "eine Hand ganz ausser Takt zu spielen scheint, die andre aber aufs strengste die Takttheile anschlägt". Sehr instruktiv ist Rellstabs Werkchen durch Ausführung der D-rnoll-Phantasie in arpeggios, also in mehrfachen Brechungen der Harmonie herauf und herunter, zeitgeschichtlich interressant, <*72> als sich das erste energische Eindringen des g-Schlüssels fürs obere System in der DoppeIausgabe dieser "Anleitung" im Klavier- (c) und Violinschlüssel hier wie im Anhang des Buches (Neueste Verlagsartikel von Rellstabs Musikhandlung in Berlin) zeigt. Ph. Em. Bachs Sonaten mit veränderten Reprisen will Rellstab erst nach 6 Monaten studiert sehen. Der Schüler muss vorher in die elementarsten Anfangsgründe der Harmonielehre eingeweiht werden, damit er die Ursachen, warum und wie man verändert, indem man nie oder höchst selten harmonisch, sondern nur melodisch mit Verwechselungen der Akkorde usw. variiert, einsieht. Was endlich das Studium der Manieren angeht, so will Rellstab sie im Gegensatz zu Ph. E. Bach gleichzeitig mit dem des Stückes begonnen haben.

Von Rellstab an beginnen die Klavierschulen wie Pilze aus der Erde zu schiessen. Es ist von nun an unmöglich, eine auch nur annähernd vollständige Uebersicht zu geben, und daher geboten, nur die wichtigsten hier anzuführen. C.F. Becker (Systematisch-chronologische Darstellung der musikal. Literatur, Leipzig 1836) weiss allein bis 1835 volle 109 Schulen zu nennen; auf diese sorgfältige Zusammenstellung sei darum für jene Dezennien jeder Interessent verwiesen.

A.E. Müller: Klavier- und Fortepianoschule

Noch auf der Grenze alter und neuer Methodik und im ganzen noch der älteren zuneigend, steht A.E. Müllers umfangreiche Klavier- und Fortepianoschule (nebst einem Anhang vom Generalbass), Jena, Fr. Frommann 1804). Freilich ist dieses Thomaskantors Werk kein durchaus selbstständiges, sondern nur eine gründliche, reich vermehrte und die neuen Errungenschaften der Mozart-Beethoven-Clementi-Epoche hereinbeziehende Ueber- und Bearbeitung von Löhleins Pianoforteschule (s.o.), die so bereits von Reichardt bearbeitet zum sechstenmale hinausging, von der 7. Aufl. (1819) an in Leipzig (Peters) erschien, ca. 1825 in Czerny, der nun wieder auf Müller fusste, den Redakteur der 8. Auflage und den Titel "Grosse Pianoforteschule" bekam, in Jul. Knorr endlich den der neunten und letzten fand. Den weitaus grössten Raum des ersten Theiles nimmt das Kapitel vom Fingersatz, der Applicatur, wie's im 18. Jahrhundert hiess, ein. Der ganze zweite, als "Anhang" beigegebene Theil stellt mit geringen Abänderungen Löhleins Generalbasstheil seiner obengenannten Klavierschule dar, aber auch der erste, die eigentliche Klavierschule, folgt ihm bei veränderter Gruppierung der einzelnen Kapitel in den wesentlichen Zügen bei freilich weitschichtiger Ausführung im Einzelnen. Die Lehre von den willkührlichen Manieren, die, zu Ph. Em. Bachs, Marpurgs u.a. Zeiten in Blüte, bereits in Leop. Mozarts Worten (Violinschule 1770, XI, § 15) "... obwohl man sie selten mehr <*73> nennen höret .... , denn sie sind nicht ohne Nutzen; man kann sie noch wohl brauchen", ihr herannahendes Absterben ankündigt, deren Bedeutung weit zurückgegangen war (s. o.), ist auf einen kursorischen § 27 zusammengeschrumpft, und der Gebrauch nicht vorgeschriebener nur dem gestattet, der (S. 45) "Komposition verstehet und schon für die Kunst ausgebildet ist", unter keinen Umständen aber dem Schüler (S. 296). Gut musikalische, wenn auch nicht gerade tief eindringende Lehren und Ratschläge und Lehren ästhetischer Art giebt endlich das neunte Kapitel: "Vom Vortrage". Durch richtigen und schönen Vortrag muss der Spieler den Charakter des Stückes erschöpfend wiedergeben. Ersteres setzt ein gutes, musikalisches Ohr und mechanische Fertigkeit, letzteres daneben richtiges Gefühl, Geschmack und Kenntniss der Harmonie- und Generalbasslehre voraus. Als ein noch heute vorzügliches Hilfsmittel, diese "Seele der Musik" zu wecken, empfiehlt Müller, den Schüler unbekannte, unbezeichnete Stücke nach der Affektenlehre und aus dem Werke selbst dynamisch schattiren und vortragen zu lassen. Die mechanischen Hilfsmittel des Pianoforte (Züge usw.) soll er erst spät kennen lernen.

J.L. Dussek: lnstructions on the Art of Playing the Piano Forte

Auf derselben Grenze zwischen alter und neuer Methodik steht auch Dussek in seinen brauchbaren "lnstructions [on the Art of Playing the Piano Forte, London 1796]". Die willkührlichen Manieren finden sich nur noch anlässlich ihrer Anwendung zur Verzierung der Kadenzen erwähnt. Im übrigen geben sie bei gut pädagogischen, rein aus und für die Praxis geschriebenen, knappen Erläuterungen zu keinen, auf Grund irgendwelches Neuen zu machenden Bemerkungen Anlass. Den grössten Theil des Werkes nimmt wieder die klar und praktisch vorgetragene Lehre vom Fingersatze ein. Die richtige Haltung der Hände hängt bloss vom richtigen Fingersatze ab. Die Ruhe muss überall, soweit möglich beobachtet werden. Im übrigen wird sie individuell nach der körperfichen Beschaffenheit des Spielers und seiner "Faust" verschieden und also auch individuell zu behandeln sein. Seine 12 Regeln für den Fingersatz haben alle zur Voraussetzung, dass die Lage der Hand nie verrückt werden und keine wiederholte Note, Doppelnoten oder Akkorde ausgenommen, mit einem Finger gespielt werden darf. - Dusseks Klavierkompositionen sind übrigens geschichtlich auch noch dadurch interessant, als sie gleich einigen Steibeltschen (z.B. Rondeau pastoral "L'orage" seines E-dur-Konzertes) zum erstenmal eine ausgedehntere, von der heutigen wegen der geringen Nachallfähigkeit verschiedene Pedalanwendung im Druck zeigen.

J.G. Werner: Musikalisches ABC-Buch

Dass der willkührlichen Manieren Herrschaft praktisch um 1800 ziemlich vorbei ist, obwohl sie theoretisch sogar noch bis gegen 1800 in Schillings "Der Pianist" (s. S. 96) herumspuken, zeigt auch z.B. in dieser Zeit die brauchbare Kinder-Elementarklavierschule "Musikalisches ABC-Buch von J.G. Werner, Penig, F. Dienemann 1805. Da heisst es S. 28: "Da bei den jetzigen Tonstücken die Manieren fast durchgängig vorgeschrieben sind, und da ein Klavierspieler, um zu rechter Zeit und am rechten Orte willkührliche Manieren anzubringen, <*74> ein sehr gutes musikalisches Gefühl und bedeutende musikalische Kenntnissse besitzen muss; so ist es für einen angehenden Klavierspieler am ratsamsten, bloss die wesentlichen Manieren zu machen ..." (die darauf ausführlich in der bekannten Art erläutert werden). Werners Anweisungen für den auf "Bequemlichkeit und guten Anstand" gegründeten Fingersatz gehen damit wörtlich auf Wolf (s.o.) zurück. Seine Vortragslehre legt Werth auf einen guten singenden Ton. "Man erlangt ihn, indem man sich gewöhnt, die Tasten mehr mit einem gewissen Druck der Finger, als mit Ausholen der Hand anzuschlagen, und wenn der Ton anspricht, noch gelinde nachzudrücken. Das richtige Halten der Finger dass nämlich solche gekrümmt über den Tasten stehen, und man bloss mit den Spitzen derselben anschlägt, sowie auch, dass man mehr von den Tasten abgleitet, als die Finger in die Höhe hebt, ist ebenfalls zur Erlangung eines guten Tons nothwendig." Die Lehre von der richtigen Interpunktion legt Gewicht auf sorgfältige Beobachtung guter und schlechter (schwerer und leichter Takttheile), seine Affektenlehre gipfelt in dem Leitsatze: Bei "jedem guten Musik-Stück liegt eine solche Empfindung zum Grund, die man den herrschenden Charakter des Stücks nennt."

A.L. Crelle: Einiges über musikalischen Ausdruck und Vortrag. Für Fortepiano-Spieler

Obgleich ganze achtzehn Jahre später erscheinend, steht auch, namentlich wieder durch Einschätzung der Manieren, des Berliner Oberbaurat und vortrefflichen Dilettanten Dr. A.L. Crelles interessantes und seltenes Büchlein "Einiges über musikalischen Ausdruck und Vortrag. Für Fortepiano-Spieler" (Berlin 1823, Maurersche Buchandlung) auf dieser Grenzscheide zwischen alter und neuer Methodik, im allgemeinen aber ganz auf dem Boden Wiener Klassik. Auch er will von den alten willkührlichen Veränderungen nicht mehr viel wissen und ist sogar der Kadenz, "einem Geschwulst am Körper" nicht mehr eben freundlich gesinnt. "Die Verzierungen sind allemal Nebendinge. Sie sollten sich nie bis auf wesentliche Veränderungen der Melodie und Harmonie erstrecken. Sie sollten nicht über dasjenige hinausgehen, was der gute Komponist vorschreibt und nur immer so vorgetragen werden, dass sie die Melodie nirgends verdunkeln. Der korrekte Komponist schreibt genau hin, was er verlangt. Hätte er diese oder jene Verzierung haben wollen, so hätte er sie gewiss angedeutet, und es ist wieder Anmassung, wenn jeder Ausführende die Werke grosser Meister verbessern zu können glaubt." Das ist gewiss deutlich genug für den Umschwung der Zeit. Mag die Gesangskomposition noch wie bisher auf die willkührlichen Veränderungen rechnen: ein korrekter, inniger Vortrag steht Crelle auch hier höher, und es verräth sich der Verehrer des klassizistischen Empire, wenn er im übertragenen musikalischen Sinne der schönen Form einer nackten Bildsäule vor einer mit bunten Flittern aufgeputzten Figur den Vorzug giebt.

Crelles Ausführungen über musikalischen Ausdruck und Vortrag sind nicht systematisch, sondern mehr aphoristisch gehalten. Den Ausdruck bestimmt bei enger Verwandtschaft der Musik und des Wortes die Lehre vom Rhythmus und Takt, die genaue Beobachtung der äusseren Mittel der Höhe und Tiefe, Kraft und Schwäche, Dauer und Kürze, Fülle und Schärfe, Eilen und Zögern. Der Vortrag besteht in dem Ausdruck des zu einem Ganzen hinwirkenden Mannigfaltigen. Ein feiner Vortrag verlangt peinliche Aufmerksamkeit auf <*75> Beobachtung der vom Komponisten geforderten Länge und Kürze der Töne, eines gesangvollen tragfähigen Anschlages, einer vorsichtigen Behandlung des Dämpfers, eines angemessenen, nicht zu eiligen Schwellens und Abnehmens der Töne, einer peinlichen Beobachtung der durch Punkte oder Bogen angedeuteten Veränderung in der Stärke der Töne, eines gegenüber den einzelnen Bestandtheilen der Harmonie weniger - hier spricht Goethe! - "bedeutenden" Vortrages der Verzierungen (z.B. Anschlag, kurzer Vorschlag, Doppelschlag, Nachschlag, Mordent, Pralltriller, Läufer, Triller, Kadenz).

Die Erwähnung einer Beethovenschen Styleigenthümlichkeit, des plötzlich piano endigenden Crescendo leitet in den interessantesten letzten Theil des Büchleins über, den diese etwas breit und allgemein ästhetisirenden, für den musikalischen Menschen ziemlich selbstverständlichen Ausführungen über Mechanik Ausdruck und Vortrag im Klavierspiel nicht erwarten liessen: die Glossen zur zeitgenössischen Musik. Da ertönen die alten Klagen über die "ältere blühendere Kunst-Epoche" (!), die lärmende inhaltlose Modemusik; da wird mit liebevoller Wärme der "Rafael der Musik", Mozart, die ruhige religiöse Grösse der alten Italiener, die Tiefe der harmonischen Kunst Bachs und der strengen Kontrapunktisten, der harmonische Wohllautsstrom und fromme Sinn Haydns und Händels Kraft als vorbildlich gerühmt. Doch - und dies giebt Crelles Schrift besonderen Werth! - auch Beethovens Grösse und seine "Riesengebilde" sind im allgemeinen richtig erkannt, wenngleich seine "zum Theil fremden und phantastischen Tongebilde", diese "seltsameren Vorbilder", die die "Laune dieses oder jenes Meisters" schuf, mehr vorsichtig-platonische Ehrfurcht als wirklich liebevolles Verständniss annehmen lassen.

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