Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

S. 96 - Texterweiterung der 8. Auflage (1920)

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[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

Moscheles-Fétis: Méthode des Méthodes

<*95> Die "Méthode des Méthodes", Paris 1837, von Moscheles-Fétis, ist keine eigentliche originale Klavierschule, sondern, wie schon ihr Titel besagt, zugleich eine eingehende kritische Analyse der besten älteren Klavierschulen von Bach, Marpurg, Türk, Müller, Dussek, <*96> Clementi, Smidt, Adam, Cramer, Czerny, Hummel und Kalkbrenner, die das Wichtigste aus ihnen für ihre rein praktischen Zwecke verwerthet und eine grosse Reihe Originaletüden von Czerny, Cramer, Scarlatti, Bach, Moscheles, Chopin, Döhler u.a. beifügt. Ihre Schwächen bestehen in allzu langem Hinausschieben des Tonleiter- und Staccatospiels. Die klavierästhetischen Ausführungen, wie sie im 13. Kapitel (Vom Styl im Vortrage) vorliegen, sind kurz und oberflächlich. Sie gipfeln in dem Satze: "Der Styl im Vortrage kann nur darin bestehen, dass man jedes Werk nach der Idee wiedergiebt, die es hervorgebracht". Dass es mit der Praxis der "willkührlichen Manieren", die der ganzen älteren Klaviermusik eignen, nunmehr ein für alte mal vorbei war, beweist die energische Ablehnung der Möglichkeit jeglicher eigener Zusätze. "Die höchste Vollkommenheit in der Kunst ist, das Geschriebene so gut wiederzugeben, dass man nicht Ursache hat, etwas hinzu- oder davon weg zu wünschen. An die gesegneten alten Zeiten einer förmlich entwickelten Kunst der Improvisation, deren Blüte noch durchaus nicht gewelkt war, gemahnt das ausführliche letzte (14.) Kapitel. Ein wirklich bedeutender Improvisator muss besitzen: fruchtbare Einbildungskraft, Kenntniss der Theorie, die Gabe der Analyse (Erkenntniss der Hilfsquellen des zu entwickelnden musikalischen Gedankens), Ruhe und Fähigkeit, seine Ideen nach einer gewissen Steigerung des Interesses zu ordnen, und zwar bei nothwendiger Wiederkehr der Hauptideen. So sind "eine freie, in ihren Gedanken kühne Phantasie und eine wohlgeregelte Ordnung in der Auswahl der hervorspringenden Ideen" die beiden Grundelemente jeder wahren Improvisation. In der Berücksichtigung des Wechselfingersystems, eines auf Leichtbeweglichkeit der Hand ausgehenden Fingersatzes und einer sinngemässen Phrasierung bilden die Méthode und Lebert & Starks grosse Klavierschule schon die Vorstufen zu Riemanns (s.u.) klavierpädagogischen Werken.

G. Schilling: Der Pianist

Der "Methode der Methoden" und den älteren Schulen und Schriften als kompilatorisches Kompendium der "in ihrem Gesamthumfange theoretisch-praktisch dargestellten" Kunst des Klavierspiels mit besonderer Rücksicht auf Dilettanten ist unmittelbar anzuschliessen das Spohrs Gattin gewidmete Werk

Gustav Schilling "Der Pianist", Osterode 1843, 2. Aufl. 1854, A. Sorge.

Als "Lehr- und Handbuch für Alle, welche Klavier spielen und diese Kunst lehren oder lernen" sich bestrebend, Alles zu lehren, setzt sie dem einzig uns interessirenden zweiten Theil, der eigentlichen Klavierschule, einen ersten, eine allgemeine und elementare Musiklehre des Pianisten, voraus. Aber auch in den zweiten Theil dringen Theile solcher allgemeinen Musiklehre, wie ein Kapitel über Harmonik und Melodik, eine kleine Formen- und Harmonielehre störend hinein. Hier, wie in den eigentlichen klaviermethodischen Kapiteln wird man die geschickte Kompilation, die lieber Alles und viel zu viel, als Weniges und selbstständig auf den speziellen Zweck Zugeschnittenes bringt, bald unschwer erkennen. Im zweiten Theil gründet sich die Organologie (!) oder die Lehre von den beim Klavierspiel thätigen Organen, ihrer Eintheilung und Verwendung (Kap. 1, § 1-6) auf die vorangegangenen älteren Schulen von Ph. E. Bach und Türk bis Moscheles-Fétis, Hummel und Kalkbrenner. Der gute Anschlag <*97> (S. 162) sei weich, den Ton gleichsam aus der Taste herausziehend, und doch kräftig, aber nie schlagend, gleichmässig, gleichartig und in dem Mechanismus seiner einzelnen Theile vollkommen frei und selbstständig. Gleiche lediglich kompilatorische Geschicklichkeit in der Verwerthung der ebengenannten Quellen verräth das 5. Kapitel (§ 1-21), die Ornamentik oder die Lehre von den mancherlei Figuren und Manieren im Klavierspiel. Denn hier lebt in den §§ 20 bis 23 die seit etwa der Jahrhundertwende für abgestorben gehaltene Lehre von den willkührlichen Manieren noch einmal wieder auf! Schilling unterscheidet allgemeine und besondere willkührliche Manieren. Jene sind die echten, nicht vom Komponisten notierten und frei vom Spieler mit Geschmack namentlich Tonstücken langsameren Tempos ausschmückend hinzugefügten Marpurgschen "Setzmanieren", diese die im Vortrag und Charakter des Stückes begründeten agogischen und dynamischen "Manieren" des Zögerns (ritardando) und Eilens (accelerando), des Anwachsens (crescendo) und Abschwellens (decrescendo). Die Lehre von Art und Anwendung der willkührlichen Manieren ist ganz die alte, uns durch Marpurg, Ph. E. Bach und Türk vertraut gewordene. Es ist nur logisch, dass sie sich (§ 23) mit Türk auch auf die Verzierung der Fermaten und anderer dergleichen langer Noten oder Ruhepunkte ausdehnt. Beides aber nur dann, wenn das Klavier solistisch, nicht begleitend auftritt. "Im anderen Falle kommen die verzierten Fermaten und sonstigen dergleichen Ruhepunkte am häufigsten und zweckmässigsten bei den eigentlichen Schlusscadenzen brillanter und konzertirender Sätze, also im Moment der höchsten Steigerung des Affekts, der Erweckung usw. vor, und daher mögen sie auch wohl den besonderen Namen Cadenzen, Bravourcadenzen, Finalcadenzen usw. erhalten haben." - Eine praktische Bedeutung hatten die willkührlichen Manieren zu Schillings Zeiten ausser etwa in der Improvisation des Virtuosen längst nicht mehr. So ist zweierlei zur Erklärung dieser auffallenden Erscheinung möglich: entweder hat die Handschrift seines "Pianisten" Jahrzehnte lang auf den Druck warten müssen oder - das Wahrscheinlichere - dem vortrefflichen Kompilator sind diese Paragraphen aus Ph. E. Bach und Türk, deren Klavierschulen er selbst (S. 7) als die besten Lehrbücher des Klavier-Spiels bezeichnet, so gewissermassen ganz von selbst mit "in die Feder gelaufen".

J. Schmitt: Vollständige praktische Pianoforte-Schule

Grosse Verbreitung fand namentlich in Norddeutschland die durchaus auf Hummel-Czernyscher Methodik aufgebaute

Vollständige praktische Pianoforte-Schule von Jacob Schmitt, Hamburg 1845, G.W. Niemeyer (Schuberth).

Die Hand - das sind etwa seine wichtigsten Vorschriften - wird etwas nach aussen gebogen, in ungezwungener, natürlicher Lage bewegt, das Handgelenk eher etwas tiefer als höher gehalten. Beim Unter- und Uebersetzen bleiben Hand und Handgelenk ganz ruhig in ihrer Lage. Die Taste wird genau nur mit der Fingerspitze, wie beim Fall eines Hammers angeschlagen. Der Daumen biegt sein vorderstes Glied nach innen. Der Ellenbogen steht mit der Tastatur in Parallellinie, darf jedoch zur Noth lieber etwas höher als tiefer liegen. Kraft, Gelenkigkeit und Unabhängigkeit der Finger, die man auf Obertasten <*98> etwas auswärts biegt, sind vornehmlich zu fördern. Das Staccato ist einzig mit dem Handgelenk auszuführen.

Die Werke von Moscheles-Fétis und Lebert-Stark beschränken sich aber meist auf die Zusammenstellung von kompositorisch ausgearbeiteten Studien, das erste ist in der Theorie fast gar nicht, das letztere, mehr zur Ausbildung von Fachmusikern geeignet und oft erbarmungslos trocken, nur wenig ausführend.

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