Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 3

S. 115 - Texterweiterung (2) der 8. Auflage (1920)

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[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

F. Brendel: Geist und Technik im Clavierspiel

<*114> Eine breitere, um vieles Neue bereicherte Ausführung dieses Aufsatzes ist desselben Verfassers kleine Schrift

Geist und Technik im Clavierspiel, Leipzig 1867, C.W. Siegel.

Abermals verbreitet sich der Verfasser (S. 49f.) über diese, der Cementi-Müller-Knorrschen Richtung folgende Handstellung - sanft <*115> geneigte Ebene der Hand von ihrer Wurzel an gegen die Finger mit etwas eingedrückten Mittelhandknochen (Knöcheln), vom zweiten Glied an gebogene Fingerglieder (das letzte senkrecht zu den Tasten), Lockerbleiben des Handgelenkes -, die dem Schüler durch Beihülfe des Lehrers, der mit seiner einen Hand die des Schülers in einer bestimmten Weise (S. 52) fasst, nur zunächst zur Vorbereitung anzuerziehen ist. Das neuere Lisztsche Klavierspiel jedoch kennt keine einseitig systematisierte Manier der Handhaltung, will zu einer, nach individueller Handbeschaffenheit durch jeweils verschiedene Schulung der Hand zu erreichenden Universalität führen, und bevorzugt, wie Weitzmann und mit ihm Brendel lehren, bei zum Theil ganz veränderter Applicatur die Lisztsche Handhaltung: die Finger der Hand erheben sich bis zur Höhe des Handgelenks, um beim Niederfallen einen um so kräftigeren Anschlag der Tasten erzielen zu können. Ein tüchtiger Lehrer darf aber auch, wie der Verfasser in dem vortrefflichen vierten Abschnitt (S. 135ff.) nachweist, die ästhetische Seite der Klavierpädagogik nicht übersehen. Der Schüler muss lernen, sich zunächst von bequemen Vorurtheilen ("Geschmackssache" im Vortrag, Willkühr des Kunstgeschmackes, Befangenheit in der sinnlichen Seite der Kunst) und Missverständnissen zu befreien; er muss sich in ein Tonstück hineinleben, sich über seinen geistigen Inhalt klare Rechenschaft geben, richtig fühlen und logisch denken lernen. Auch die wichtigsten Grundzüge der musikalischen Technik muss er erkennen können und vor allem mit seinem praktischen Studium ein solches der Musikgeschichte verbinden, will er zahlreichen Irrtümern, z.B. dem vom überwundenen Standpunkt der Vergangenheit oder dem der alleinseligmachenden, unerreichten Gegenwart, dem einseitigen Konservativismus oder extremsten Fortschritt aus dem Wege gehen und die Gegenwart gerecht beurtheilen und richtig verstehen.

M. Tunner: Die Reinheit des Klaviervortrages

Im Jahre 1860 erschien diese unsre "Aesthetik des Klavierspiels" von Ad. Kullak, vorbereitet durch jene oben genannte Schrift über die "Kunst des Anschlags" und "Das Musikalisch Schöne" (1858). Ihre Wirkung war gross und lässt sich am besten an zwei feingeistigen und ungemein werthvollen Werkchen Marie Tunners nachweisen, deren erstes, "Die Reinheit des Klaviervortrages, dem Idealismus in der Tonkunst gewidmet (Graz 1870, Leuschner & Lubensky, unter dem Pseudonym Eugen Eisenstein), eine Aesthetik, deren zweites, Die Reinheit der Klaviertechnik (Graz 1885, ebendort, unter dem Pseudonym S. Tunner), eine Methodik des Klavierspiels darstellt. Sie folgen in beiden dem Verfasser dieses Buches, dessen "Kunst des Anschlags" ausdrücklich im ersten Buche (S. 35) als vorbildliches Studienwerk empfohlen wird.

Die Reinheit des Klaviervortrages fasst im Vorwort den Zweck der Schrift zusammen: "Ausser der Pflege des musikalischen Ideales in der Familie überhaupt, hat dann das Büchlein den hauptsächlichen Zweck, das junge Talent, welches die Kunst zum Lebensberuf erwählen will, zu entzünden; zugleich aber seine Unerfahrenheit über die einfachen, festen und klaren Bedingnisse des <*116> Schönen unserer Tonkunst zu belehren." Das tut es in feingezeichneten ästhetischen Profilen unsrer grossen Klavierkomponisten von Bach zu Schumann (Onslow charakteristischerweise eingeschlossen) und vier grösseren Kapiteln, die das eigentliche klavierästhetische Material liefern.

Das ist aus einem frauenhaft feinen und warmen Empfinden in feinstylisierter, phantasievoller und an anschaulichen bildlichen Vergleichen reicher und blühender Sprache dargeboten. Der liebenswürdige Geist dieser Bücher ist der idealistische Schillers; man begreift, dass der Dichter Hamerling dem ersten eingestandenermassen nach der Verfasserin frühem Tode neubelebtes Kunstinteresse verdankte. In dem idealistischen Grundton berührt es sich mit der bildenden Kunst und Literatur der sechziger Jahre, deren Pflege als eines Stärkungsmittels der Phantasie und des Formsinnes des angehenden Musikers es nachdrücklich und mit Recht empfiehlt. Im Sinn dieses klassischen Kunstideals sind nun auch seine ästhetischen Ausführungen zu würdigen: Höher als die Technik steht die idealvolle Auffassung, der seelenvolle Ausdruck im Spiele, die nur eine klassische Bildung, ein einfacher Sinn, ein stilles Studium ermöglicht. Im Sinn einer mehr liebenswürdigen als tiefen Auffassung des Klavierspiels, einer hohen Einschätzung des Klaviers als "eines Behälters silberklarer Glockentöne" wird guter Salonmusik und, im Sinn einer damals noch nicht erstorbenen Hausmusik, dem vierhändigen Spiel von Arrangements für das künstlerische Reifen des Urtheils und Vortrags das Wort geredet. Alle Schönheit des Klavierspiels ist im reinsten Wohlklang zu suchen. Künstlerische Technik und Klangschönheit sind die unentbehrlichen Grundlagen künstlerischen Vortrags. Die Technik - im Sinn einer an Thorwaldsen begeisterten Schönheitslehre - soll nur edle Klänge in reine Formen fügen: edle Form, kostbarer Stoff. Vorbild des Melodieanschlags voll Rundung und feiner Modellierung bildet der Gesang: auch die ausdrückliche Erwähnung von Thalbergs obengenannter "Kunst des Gesanges auf dem Pianoforte" rückt das Buch in eine Zeit, die Hummel und Willmers mit gutem Gewissen und Recht nicht nur dulden, sondern zur Aneignung einer feingeschliffenen Salontechnik auch empfehlen konnte.

Das künstlerische Spiel muss in Bezug auf Formenbau anschaulich, die künstlerische Auffassung eines Stückes einheitlich sein. Der Natur der Hauptformen müssen lebhafte Phantasiebilder entsprechen, die der Spieler vor Errichtung der technischen Vollendung während des Uebens jedoch abzuweisen hat. Die Phantasie bleibe vom Verstand behütet, vom Geschmack geleitet, von Gefühlswärme gehoben, ohne sich in die unheilvolle Gefühlsfaselei einerseits, die Eisreinheit eines kristallkalten Ideals andrerseits zu verliren. Die Kunst ist vielmehr der Mensch; der Gehalt des musikalischen Vortrages beruht allein auf Charakterauffassung, und diese gründet sich auf das klare Verständniss des Ausdrucks, welcher einem wohlgebildeten Thema innewohnt. Nicht die Menge der Technik, sondern die Höhe der idealen Anschauung macht den Künstler, das höchste Ziel ist die Vereinigung beider. Ohne körperliches Wohlbefinden, ruhiges Gemüth und klare Besonnenheit beim Ueben ist es unerreichbar.

Die Nutzanwendungen aus dem Vorhergehenden ergeben den Adel des Styls, der in folgenden Satz gefasst werden kann: "Das eigne Talent mit dem des Komponisten zu vereinigen, dass der Geist der Komposition und der des Vortrages zu völliger Einheit wird, ist <*117> das wahre Ziel des Studiums, denn es ist die Höhe idealer Anschauung, und die Würde des edelsten Styles. Diesen Adel der Kunst kann man aber begreiflicherweise nur durch das treue Festhalten an einem besonders erwählten Komponisten erreichen, da eine solche Höhe und Tiefe der Auffassung eben so wenig durch die zwischen mehreren Stylen zertheilte Kunstrichtung reifen kann, als aus einem Talente ein anderes und aus einem Komponisten ein anderer werden kann." In diesem Sinne einer idealen, bei der Wahrheit des von der Natur angedeuteten Ideals bleibenden Darstellung muss die Auswahl der Literatur getroffen werden. Zur Verkörperung dieses Ideals sind also dem Musiker unumgänglich nöthig: "ideale Fassungskraft, Einheit der Richtung, Schönheit der Technik, Würde des Styls und - unaufhörlich strömende Wärme des Talentes." Urbild aller, dem Menschen bekannten Schönheit aber ist der Mensch.

Es liegt in der Natur des Themas, dass dieses Buch mehr allgemein-ästhetisch als mechanisch-technisch ergiebig ist. Die hier vermisste Methodik giebt nun in Kapiteln, die der Reihe nach die Bildung des Klangsinns, die Genauigkeit im Spiel, die Verschiedenheit im Anschlag, die Anwendung der Anschlagsarten, die Anleitung zum Vortrag und die Leitung des Unterrichtes erörtern, in ganz kurzen Zügen sein Nachfolger, die Reinheit der Klaviertechnik. Uns interessiren natürlich hauptsächlich die Ausführungen über die Anschlagsarten und den Vortrag, die eigentliche Methodik und Aesthetik. Es ist klar, dass die Lehre von den Anschlagsarten durchaus auf dem älteren Boden des Handgelenk- und Fingerspiels, des ungeistigen Legato steht. Das Gute daran in einer Zeit mechanischer Auffassung der Klaviertechnik ist die bereits oben betonte Grundlage alles künstlerischen Klavierspiels: der Gesang auf dem Klavier. Ziemlich unglücklich bleibt die Dreitheilung des Legatospiels in Passagen-, Gesang- und Geigenanschlag - der mittlere bei ziemlicher Tiefhaltung der Hand als einer Art Vorahnung der Leschetizkymethode - wie die in der Tat täuschende Lehre vom "Tonziehen" des gegebenen Klaviertons. Das Staccato aus der Fingerspitze ist erkannt; weitere Aufschlüsse freilich zu geben, verhindert die auch im Kapitel vom Vortrag mehr fein- und allgemein-ästhetisirende als technisch-methodische Art des von demselben idealistischen Geist beseelten Büchleins. Aus dieser Vortragslehre, einer Analyse ausgewählter Kompositionen nach Hauptcharakter und Anschlagsart, wird man namentlich den feinen Bemerkungen über die, besonders bei Beethoven wichtige, nach jeder Richtung gut ausgebildete Steigerung Beachtung schenken. Auch sie untersteht den Gesetzen des Wohlklanges; sie sei wohlbedacht, von weisem Maass und darf auf dem Gipfel, dem Forte oder Fortissimo, niemals mit Beiseitesetzung des künstlerisch gebildeten Anschlages und Zuhilfenahme der rohen Natur ins Steife, Harte und Hässliche ausarten.

K.E. Schneider: Musik, Klavier und Klavierspiel

Der von Adolph Kullak beeinflussten idealistisch-romantizirenden Gefühlsästhetik Marie Tunners steht ganz nahe die vom Dresdner K.E. Schneider, einem der ersten Geschichtsschreiber des deutschen Liedes, verfasste Schrift

Musik, Klavier und Klavierspiel. Kleine musik-ästhetische Vorträge. Leipzig, F.E C. Leuckart 1874.

<*118> Schon das Vorwort, das die Schrift in erster Linie der weiblichen Jugend zuweist, betont gegenüber dem "idealitätslosen Realismus" der Zeit die Empfänglichkeit für die Tiefe, Unendlichkeit, Unaussprechlichkeit, Unergründlichkeit, die dunklen Seiten der Musik, deren Gefühl und Gefühlsdarstellung ihr eigentliches Wesen ausmacht. Die Musik beruht, so gut, wie die übrigen Künste, nicht bloss auf arithmetischen, sondern auf psychologischen Gesetzen auf einer gottgeordneten Organisation des Seelenlebens. Nicht die historische, sondern die rein geistige ästhetische Würdigung des Klaviers und Klavierspiels mit Ausschluss alles Technischen und Mechanischen ist der Zweck des Buches, das sich absichtlich aller historischen Werthung der Gegenwart nach pflichtschuldig-sauersüsser Verbeugung vor Wagners dichterisch-musikalischer Monstrosität "effektreicher Reform-Opern" enthält. - Der Haupttheil gliedert sich in elf, dem Titel entsprechend in drei Abschnitte. Musik, Klavier und Klavierspiel getheilte Vorträge. Der erste Abschnitt verbreitet sich nach Vorbemerkungen über das Wesen der Musik (die Gefühlsdarstellung), die Folgerungen aus ihm, und die Grundfaktoren der Musik: Melodie, Harmonie, Rhythmus. Der zweite und dritte Abschnitt - nur sie gehen uns an - bringt die eigentliche Klavierästhetik. Der 5. Vortrag (Das Klavier) stellt Mängel und Vorzüge des Klaviers einander gegenüber. Jene - starre Modulationslosigkeit jedes Tons, Unveränderlichkeit des einmal angeschlagenen Tons, unterschiedslose Gleichtönigkeit und seelische Eintönigkeit aller Lagen der Tastatur - sind allzu schwarz geschildert. Und wenn der Verf. zugiebt, dass der Anschlag das Spiel im ganzen modifiziren, den Vortrag seelenvoll machen kann, dass man im gedämpften oder ungedämpften Pedal wichtige Hilfsmittel zur Klangmodifikation besitze, so beweist doch schon der Anfang, dass dem ästhetisch feinsinnigen Büchlein das methodische "Wie" völlig fehlt. Die Vorzüge des Klaviers sind richtig erkannt. Ein Massenspiel auf mehreren (schon auf zwei) Klaviren à la Logier lehnt Verf. ab, wie merkwürdigerweise sogar schon das vierhändige Spiel. Der 6.-8. Vortrag giebt eine sachlich im wesentlichen hinter Köhler (Der Klavierunterricht) zurückbleibende Darstellung der Geschichte der Klavierliteratur. Der 9. Vortrag behandelt die Stellung des Spielers zur Klavierliteratur. Sie muss auf selbstständigem Urtheil gegründet sein. Erziehung und Gemüthsbildung helfen dazu. Und bei allem unerschrockenen Kampf gegen die zu seiner Zeit allmächtige Salon- und Bravourmusik, der sich wie ein roter Faden durch das ganze, desshalb so besonders sympathische Buch zieht, empfiehlt Verf. den klugen Kompromiss: folge dem Zuge des Herzens, der Stimme der Natur. Aus dem Vorstehenden lässt sich des Verf. Stellung zur Auffassung der Kompositionen (10. Vortrag) unschwer ableiten. Für die Auffassung, die Spiegelung einer Komposition im Innern des reproduzirenden Spielers, ist Objektivität die Hauptforderung. Nach der Anschauung seiner Zeit ist die ganze vorklassische und rein formalarchitektonische (!) Musik rein objektiv, mit affektlos ruhiger Kühle aufzufassen. Je moderner im erwachenden Gefühlsleben, desto wärmer, beseelter, leidenschaftlicher muss die Auffassung werden. Die geistige und mechanische Besitznahme von einem Stück, das Verständniss und das Spiel müssen, behufs der Auffassung und Aneignung, Hand in Hand gehen. Der psychologischen Analyse entziehen sich die Salonmusik, die vor-Bachische Musik (!), die ganze Literatur der Variationen, Transkriptionen, Cadenzen, Märsche, kleinen Rondos und Sonatinen und anderen Unterrichtssachen. <*119> Andrerseits warnt Verf. mit Recht vor äusserlicher Symbolik und Realistik in der Erklärung eines Stückes ("Nur die Darstellung der Allgemeingefühle ist untrüglich, jede schärfere Detailzeichnung bis zur sprachlichen Erkennbarkeit täuschend"). Daher seine Absage an die Programmusik. Mit Thalberg vertritt er die Kunst des Gesanges auf dem Klavier: man soll singen, was man spielt und bekommt dabei ein hervorragendes Erziehungsmittel zur Gemüthsbildung in die Hand. Der letzte (11.) Vortrag - Die Wiedergabe der Kompositionen, das eigentliche Spiel - macht infolge des Ausscheidens alles Technischen einen blossen Anlauf zur Klavier-Methodik. Es bleibt wenig genug: Der Spieler nimmt eine grade aufrechte und natürliche Stellung vor dem Instrument ein. Die Oberarme haben die natürliche Senkung nach unten, die Unterarme die ebenso bequeme Streckung nach vorn, wovon die gestreckten und etwas gerundeten Hände nur die einfache Verlängerung bilden. Und später: die Fertigkeit der Hand im Distanzenspiel, in der Figuration der Arpeggien, die Schwingung und Wogenbewegung der gelockerten Hände und Finger über die ganze Tastatur. Das könnte moderne Anschauungen vorbereiten, wenn nicht die Betonung des Werthes eines Skalenspiels in den verschiedensten Richtungen und Zusammenstellungen, "die Beweglichkeit sämmtlicher Finger nebeneinander bei ruhiger Handstellung, anfangs langsam, allmählich schneller und schneller werdend, zuerst nur an zwei nebeneinander liegenden Tasten und zwar nur in einer Hand, später mit konsonirenden Doppelgriffen in beiden Händen" (Triller, Doppeltriller-Vorübung), der "sehr schnelle Anschlag einer Taste mit den vier Fingern ausser dem Daumen", das Glissando u.a. noch ganz die alte Schule verriete. Der unvergleichlich grössere Rest auch dieses Kapitels ist reine und angewandte, an guten Einzelbemerkungen reiche Klavierästhetik. Auffassung und Spiel ergänzen und fördern sich gegenseitig. Die Haltung des Klavierspielers ist die von allen Instrumentisten günstigste und natürlichste. Der störende Eindruck des Kraftaufwandes ist vor dem Klavier der geringste; der Spieler beherrscht bei seinem entfernteren Sitz das Instrument vollkommen. Entsprechend den beiden grossen Kompositionsrichtungen in der Geschichte des Klavierspiels unterscheidet Verf. zwei gegensätzliche Methoden desselben: die ältere solide klassische, die Objektivität, Pietät gegen das Original, historischen Sinn und (sehr gut!) oft gelassenere Tempi wie vorgeschrieben fordert, und die neuere figurierte gelöste romantische, die ein lebhaftes figuriertes Spiel erfordert und die moderne Bravourmusik einschliesst. Das Herz des Verf. ist bei der ersteren. Die letztere unterschätzt und missversteht er mit den Worten "seelisch unerquicklich" durchaus, sofern sie nicht Salonmusik ist. Trotzdem empfiehlt er auch hier wieder den Kompromiss, "um das Innere zu retten und doch den Forderungen der modernen Musik gerecht zu werden", die der Salonmusik sogar noch einen bescheidenen Eigenwerth als technische Uebung zuweist. Der Umschlag muss kommen. Dann wird auch die Technik wieder Mittel im Dienst der Kunstdarstellung, Organ für die Wiedergabe der Meisterwerke mit dem Reichthum und der Tiefe ihrer Gefühle werden. Diese vollendeten Schöpfungen vollendet zu Gehör zu bringen, ist das einzige Ziel aller Bravour, die höchste Stufe des Klavierspiels überhaupt. Und diese vollendete Darstellung ruht - wir wussten es schon - durchaus in der musikalischen Gefühlsdarstellung. Der Verf. erschöpft sich in Worten, wie: seelenvoll, Seelensprache, Seelengesang, Seelenfonds des Tonstückes, Seele des Spielers, <*120> um seinen, schliesslich alles zusammenfassenden Leitsatz: "Die seelische Nachempfindung und Wiedergabe der Kompositionen bleibt das innerste Geheimniss aller musikalischen Reproduktion, auch des reproduzirenden Klavierspiels"; die gesamte Technik liefert nur das Handwerkszeug um diese "Gefühlsoffenbarung der Tonwerke" noch einmal scharf heraustreten zu lassen. Mit einigen guten Bemerkungen über den Werth einer gefühlsbeseelten, rechten Liedbegleitung - die Begleitung muss das Lied, nur ohne Worte sein - schliesst das Buch.

Sonstige Klavierschulen der älteren Methodik

Der weitaus grösste Theil der älteren Methoden und Schriften über Klavierspiel steht, in nicht wenigen Fällen sogar noch in der Gegenwart, durchaus auf dem Boden Köhlerscher Systematik und Anschlagslehre. Die Systematik bis zum Schematismus herrscht vor; die Anschlagslehre beharrt auf der Lehre vom reinen Fingerspiel, vom Knöchelgelenk-, Fingergelenk- und Handgelenk-Anschlag, von Druck, Stoss und Schlag, von der Alleinthätigkeit von Finger, Hand und Unterarm. Der Werth dieser Werke liegt in ihrer streng und schrittweise aufbauenden Methodik und Systematik von ebenso solider wie trockener Gründlichkeit.

Dahin gehören, um nur die wichtigsten zu nennen: der Wegweiser für den Unterricht im Klavierspiele in engster Verbindung mit der Allgemeinen Musiklehre von August Müller (Ems 1872, im Selbstverlag), die allgemeine und spezielle Klavierunterrichtsmethode von Wenzl Schwarz (Wien 1873, im Selbstverlag), die ausserordentlich gründliche, breit angelegte und gleichfalls dem Elementar-Lehrer besonders nützliche Lehre vom Klavierspiel, Lehrstoff und Methode, von Albert Werkenthin (3 Bde., Berlin 1889, 2. Aufl. 1897, Carl Simon) mit noch heute sehr lesenswerthem Verzierungs- und Fingersatzkapitel, und die von Emil Breslaur hausgegebene Methodik des Klavierunterrichts in Einzelaufsätzen (Berlin 1874, 2. Aufl. 1896, Simrock). Den Kern der Arbeit bildet gewissermassen eine Abhandlung Breslaurs über Schulung der Hand, Bildung des Tones und der Technik, deren Grundsätze gewiss die Beistimmung der Fachkundigen finden werden. Daran schliesst sich eine grosse Zahl von Aufsätzen musikpädagogischen Inhalts, von namhaften Fachschriftstellern verfasst, welche besonders wieder strebsamen Elementarlehrern Anregung in Fülle bieten. In den gleichen Kreis gehören weiter des Frankfurter Heinrich Henkels Grundzüge der Methodik des Klavierunterrichts, Frankfurt a. M. 1890, Alfred Richters überaus gründliches und gediegenes Kompendium: Das Klavierspiel (Leipzig 1898, 2. Aufl. 1913, Breitkopf & Härtel) - ein Werk, das namentlich durch seine ausgedehnte <*121> Verzierungstheorie (52 Seiten) werthvoll ist -, A. Eccarius-Siebers vortreffliches Handbuch der Klavierunterrichtslehre (Quedlinburg und Berlin 1900, Vieweg), C. R. Hennigs Einführung in den Beruf des Klavierlehrers (Leipzig 1903, Carl Merseburger) und Karl Zuschneids ausgezeichneter Methodischer Leitfaden für den Klavierunterricht (Berlin 1904, 2. Aufl. 1912, Vieweg), der bereits die Brücke zur Vermittlung mit der Moderne schlägt.

Auf gleichem älteren Köhlerschen Boden steht fast in ihrer Gesamtheit auch die heute bereits unübersehbare Legion der Elementar-, Kinder- und Volksklavierschulen.

Tausig-Ehrlich: Studien

Unter den zur modernen Methodik auf Grund der Lisztschen Schule des Klavierspiels überleitenden Fingerübungswerken neuerer Zeit stehen die Tausigschen Studien, von H. Ehrlich nicht immer gewissenhaft redigiert, herausgegeben, an der Spitze. Dieselben beanspruchen nicht, als systematisches Schulwerk beurtheilt zu werden, sondern halten sich wesentlich an solche Uebungen, welche in früheren Etüdensammlungen nicht vorkommen, Zu diesem Werk hat Ehrlich (S. 24-47) einen vortrefflichen Kommentar geboten in seiner Broschüre: Wie übt man am Klavier, Betrachtungen und Ratschläge. In derselben, die im allgemeinen Tausigschen Grundsätzen huldigt, wird nach Abhandlung der Fingerübungen (S. 9-14) und Oktaven (S. 15) folgender beachtenswerthe und ganz leise an die moderne Spannungstheorie bis zur Schulter anklingende Grundsatz aufgestellt: man solle "beim Ueben zeitweilig den Oberarm eng am Körper halten", wodurch mancherlei Misstände fehlerhafter Handstellung unmöglich werden. Ehrlich hat übrigens noch ein interessantes Studienwerk veröffentlicht: Der musikalische Anschlag, eine Sammlung von Etüden, welche jeden Finger gleichmässig nöthigen, sich in den Dienst der rein musikalischen Charakteristik zu stellen.

In den Tausig-Ehrlichschen Studien ist das höchst lohnende Prinzip der Transposition unter Beibehaltung des Fingersatzes aufgestellt. Bereits in seiner Ausgabe von Clementis Gradus hat Tausig analog gebildete Figuren, unbekümmert um die Tastenfolge, mit gleichem Fingersatz bezeichnet. Die Mechanik führt dabei freilich im einzelnen auf bemerkenswerthe Schwierigkeiten; doch werden Hände von genügender Spannfähigkeit, die auch gut zwischen den Obertasten spielen, durch die Konsequenz der Fingerfolge über etwaige Unbequemlichkeiten unschwer hinweggerissen.

<*122> Es dürfte hier der geeignete Ort sein, in der Kürze auch anderweitige Bestrebungen zu charakterisiren, welche zu einer wesentlichen Umgestaltung unserer Anschauungen über Fingersatz geführt haben. Zunächst ist ein rein technischer Gesichtspunkt zu nennen, auf welchen die ältere Pädagogik nur ausnahmsweise Werth gelegt hat, nämlich der Fingerwechsel bei direkten, ja selbst indirekten Tastenwiederholungen. Moderne Herausgeber - Bülow und Riemann an der Spitze - bedienen sich dieses Hilfsmittels zur Glättung des Anschlags in ausgedehntestem Masse, während man es früher höchstens dort anwendete, wo eine und dieselbe Taste mehrmals in schnellem Tempo wieder anzuschlagen war, d.h. bei Repetitionspassagen. Wesentlich wichtiger jedoch ist für die Reform des Fingersatzes der ebenfalls von Bülow präzisierte Grundsatz, als obersten Bestimmungsgrund nicht die technische Bequemlichkeit, sondern die Phrasierung einer Stelle anzusehen - ein Grundsatz, dem neben dem eigentlichen Begründer und Vollender der Phrasierungslehre, Hugo Riemann, auch C. Fuchs, Klindworth, Herm. Scholtz, H. Germer u.a. folgen.

H. Riemann: diverse Schriften zur Pianistik

Wie man im kleinen und im grossen zu phrasiren hat, das ist nun zwar schon mit voller wissenschaftlicher Klarheit festgestellt; doch ist der subjektiven Anschauung ein nicht unbeträchtlicher Spielraum gelassen. Ein sehr interessantes und jedenfalls das grundlegende Werk auf diesem Gebiet ist Dr. Hugo Riemanns Dynamik und Agogik (Leipzig 1884), welchem es sicher als Verdienst anzurechnen ist, auf das nachdrücklichste die auftaktige Bildung der meisten musikalischen Motive zu betonen. Man wird das genannte Buch - ebenso wie das von Dr. Carl Fuchs: "Ueber die Zukunft des musikalischen Vortrags" (Leipzig 1884), welches etwa in gleichem Sinne verfasst ist - freilich mit der Empfindung lesen, dass das letzte Wort in der Phrasierungsfrage noch nicht gesprochen ist; doch wird man beiden Werken kräftigste Anregung danken. Der hier berührte Stoff gehört mehr in die allgemeine Musiklehre als in die Klaviermethodik; daher halte ich es nicht für angezeigt, an dieser Stelle näher auf ihn einzugehen.

Der Einfluss der älteren, im wesentlichen auf Köhler gegründeten Methodik reicht bis in die Gegenwart. Der erste Fortschrittsträger ist auch auf dem Felde der Klaviermethodik Hugo Riemann. Seine

Vergleichende, theoretisch-praktische Klavierschule Op. 39 (Leipzig 1883, 4. Ausg. 1912, Rahter),

von Hans von Bülow charakteristischerweise mit begeisterter Zustimmung <*123> begrüsst, will keine vulminöse grosse und den Schüler lediglich zu einem mehr oder weniger passiven Aufnahmeapparat herabdrückende Klavierschule, sondern eine "Anleitung sein für die freie, aber umsichtige Benutzung des besten im Laufe von mehr als einem Jahrhundert geschriebenen Unterrichtsmaterials, nicht aber eine weitere Vermehrung des Materials selbst" sein. Diese Anleitung ruht theoretisch auf der Idee, den Schüler durch kritisch vergleichende Zusammenstellung der einander widersprechenden Ansichten über die einzelnen Zweige der Klavierpädagogik und Technik zur eigenen Stellungnahme gegenüber den strittigen Problemen anzuregen. Dieser Gedanke selbst ist nicht eben ganz neu (vgl. die vorliegende Kullaksche "Aesthetik des Klavierspiels", Weitzmanns "Geschichte des Klavierspiels", 2. Aufl., Moscheles-Fétis' "Méthode des méthodes de piano"). Seine Durchführung durch Riemann aber enthält so viel Neues und Scharfsinniges, dass diese seine Klavierschule, heute "der Ausdruck eines besonnenen wägenden, mittleren Standpunktes", bei ihrem ersten Erscheinen, zur Zeit der fast unumschränkten Herrschaft von Lebert & Starks Grosser Klavierschule, auf die Riemann in seinem Vorwort deutlich anspielt, beinahe radikalfortschrittlich wirken musste.

Das Werk zerfällt in drei Theile, zwei theoretische und einen praktischen. Der erste Theil (System) birgt eine Darlegung der für die Mechanik, Technik und Aesthetik des Klavierspiels massgebenden Prinzipien unter ungemein produktiver kritischer Vergleichung der Ansichten der hervorragendsten älteren und neueren Klavierpädagogen. Der zweite Theil (Methode), der "eigentliche Faden für die Lehre", giebt praktische und theoretische Anweisungen für den Klavierunterricht; er stellt die Stufenfolge durch die Unterrichtsliteratur fest, analysiert die wichtigsten Etüdenwerke, entwirft eine kleine Schule des polyphonen (Fugen-)Spiels (mit stufenweiser Ordnung der Präludien und Fugen von S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier") und giebt einen knappen Führer durch die Klavier- und Ensembleliteratur nebst theoretisch-literarischem Anhang. Der dritte, für den Schüler bestimmte praktische Theil endlich enthält drei Hefte ergänzender Materialien.

Was ist neu und von der alten Praxis abweichend in diesem Werk? Wir erfahren es knapp skizziert vom Autor selbst aus dem Vorwort zur vierten Ausgabe:

  1. die Aufstellung der allezeit in Bewegung befindlichen Hand als Prinzip im Gegensatze zu der bis dahin allgemein gelehrten "ruhigen Hand", (die Nutzbarmachung des Gewichtes der Hand [ja auch des Unterarms] für das Crescendo und Forte ergab sich dabei als eine selbstverständliche Sache);
  2. die seither ziemlich allgemein akzeptierte Art der Anbahnung der Notenkenntniss (von Mittel c aus [c1] gleichzeitig Violin- und Bassnoten; Leseübungen);
  3. die Einführung in die Elemente der - von Türk, Riepel, Schulz inaugurierten, von Riemann mit eiserner, in den ersten Jahrzehnten bis ins kleinste Detail vielleicht doch wohl ein wenig zu eisern durchgeführten - Phrasierung (Rhythmik, Dynamik, Agogik) vom allerersten Anfang an (Aufdeckung der ganz verschiedenen dynamisch-agogischen <*124> Schattierung derselben Tonfolge je nach der Lage im Takt;
  4. die Entwicklung der Fingersatzprinzipien aus der Motivbildung ("Wechselfinger"), d.h. die Fingersätze bedingen einen steten Wechsel der Handlage.

Neu und förderlich, so fügen wir er ergänzend hinzu, ist auch noch folgendes: die völlige Neufassung der Theorie der Anschlagsarten, z.B. des Staccato als Wurf, des Mezzolegato, die Doppelverwendung der meisten Etüden zum Studium der verschiedenen Anschlagsarten mit besonderer Uebung der Transposition in anderen Tonarten, Erhebung der allgemeinen, kunst- und menschbildenden Aufgabe über die besondere, spezialtechnische, Ausschluss des Vierhändig- und Auswendigspiels, Erweiterung des Tonleiterstudiums und Erleichterung des späteren Uebergangs zur wirklichen Harmonielehre durch frühe Hineinbeziehung der zunächst sinnlich-tonlich zu erlernenden Ober- und Unterdominantskalen, früheste Entwicklung des musikalischen Gehörs, die den Schüler daher im ersten Elementarunterricht ganz mit technischen Studien verschont.

Dies alles dient lediglich der Befreiung der Klavierunterrichtsmethodik von allen die Natürlichkeit der Bewegungen zwecklos einschränkenden und hemmenden falschen Geboten und Verboten.

Im ästhetischen Theil ist von besonderer Bedeutung der kurze §§ 10: Styl. Riemann unterscheidet folgende Stylarten: den seriösen (grossen) Styl, der edle Tongebung und Nivellierung der Kontraste der Anschlagsarten verlangt, mit seiner Abschwächung, dem sentimentalen Styl. In letzterern waltet Ernst und Innigkeit ohne Grösse vor; das Phantastische, Romantische oder Elegische sind wiederum seine abgestuften Aeusserungen. Für diese beiden Style ist das Legato, ein Schwanken der Intensität in der Tongebung und Tempo rubato charakteristisch. Im Gegensatz zu diesem steht der capricciöse (humoristische) Styl mit seiner Abschwächung, dem graziösen Styl. Beide verlangen mehr oder weniger verschärfte Anschlagsarten, Staccati (Mezzolegato), und statt des Tempo rubato ein Ritenuto weniger Noten, detaillierte Phrasierung und Verzierungsreichthum. Der dritte Styl ist der brillantvirtuose mit der Anwendung alles dessen, was den Effekt erhöht: prickelndes Mezzolegato statt des legato, leichtes oder scharfes Staccato oder Mischungen der Anschlagsarten statt des Finger-Staccato, Strettas, langgedehntes Cantabile usw. Der Spieler muss den charakteristischen Styl eines Stückes richtig erkennen und gut begründen; dazu ist gesundes Talent und harmonische Ausbildung des Geistes erforderlich.

Als in seinen methodischen Anschauungen naturgemäss aufs engste verwandt, schliessen wir an Riemanns Vergleichende Klavierschule gleich seinen

Katechismus des Klavierspiels, Leipzig, Max Hesse 1888, 3. Aufl. 1905.

Auch in ihm erkennt man unschwer das ältere, im wesentlichen Köhlersche Fundament. Das ist die Auffassung vom Normalanschlag aus dem Knöchelgelenk (§ 9), die Armhaltung und Handstellung (§ 7), die Uebergehung der Rückenmuskulatur-Innervation der Oberarm-Schüttelung mit leicht fixiertem Ellenbogen- und Handgelenk und der Vibration bei Oktav- und Akkordspiel vom Rücken aus, die Anschauung (§ 16), dass durch gesteigerte Muskelübungen die Anschläge in <*125> immer gesteigerter Geschwindigkeit und immer mehr abgestufter Tonstärke gefordert werden können, das Fehlen des Non legato-Anschlags aus dem Arm und der eigentlichen Spannung, das (§ 14) erhebliche Emporziehen der nichtbeschäftigten Finger beim Akkordspiel; das sind endlich (§ 18) die Fesselübungen bei festliegender Hand. Dagegen steht bereits auf durchaus modernem Boden: die Lehre (§ 10) von der Passivität des Handgelenks beim Staccatospiel, die Verlegung des Sitzes dieses Staccatoanschlages in den Oberarm, die Bekämpfung des sog. Handgelenkanschlages mittels Muskelkontraktionen im Unterarm, die (§ 11) Erkenntniss des Seitenschlages als einer schnellen, seitlichen Schleuderung des Handgewichts mittels Drehung des Unterarms im Ellenbogengelenk (freilich nicht höher!), des (§ 13) Attacca-Ansatzes, eines plötzlichen Strammens, mit Krafterfüllen der Anschlagsglieder für plötzlich starke Accente - Beides Anschauungen, die die echte Spannung als Innervationsäusserungen deutlich vorausahnen -, die Lehre (§ 17) von der konstanten Bewegung des Armes und der Hand beim Unter- und Uebersatz im Skalenspiel, des seitlichen "Kippens" der Hand bei Arpeggien (die freilich die moderne Rollung und Führung der Arme und Hände in ruhiger gleichmässiger Bewegung über und unter dem Daumen hinweg noch nicht kennt), des Weiterschiebens des Armes bei fortrückenden gebrochenen Dreiklängen, der (§ 19) Artikulation als korrekter Verbindung und Trennung der Einzeltöne, namentlich im Cantabile. Hier wird die Hand in allen Theilen ziemlich lose gehalten, das Handgelenk nicht fixiert, die Finger nicht fest geformt. Der Melodieanschlag vollzieht sich mittels Impuls vom Unterarm derart, dass der Staccatoanschlag stets in Fingerdruck, bei festem Anschmiegen des Fingers an die Taste, umgesetzt wird. Neu und modern ist natürlich wieder die uns aus der Vergleichenden Klavierschule bereits bekannte, auf dem Wechsel der Handlage basirende Lehre vom Fingersatz (§ 20), sowie selbstverständlich alles, was sich in dem Kapitel über das Kunstwerk (§§ 25 bis 32) mit Dynamik, Agogik und Phrasierung befasst.

H. Germer: Schriften zur Pianistik

Von den auf Riemanns Boden stehenden, am frühesten fortschrittlich Gesinnten ist Heinrich Germer durch seine akademischen Phrasierungsausgaben, die Riemanns eiserne Konsequenz zugunsten breiterer und praktisch-volksthümlicher Verwendbarkeit abzumildern und abzuschwächen versuchten, der bekannteste geworden. Der Klaviermethodiker Germer mit den vom praktisch-pädagogischen Standpunkt durchweg ausgezeichneten Schriften: Die Technik des Klavierspiels, Op. 28 (Leipzig, Hug), Wie spielt man Klavier?, Op. 30 Theil 1: Lehrbuch der Tonbildung beim Klavierspiel (ebendort), Wie studiert man Klaviertechnik? (ebendort 1896), geht gleichfalls sofort weit über Kullak und Köhler hinaus, verfällt aber in dem Bestreben, physiologisch-exakt vorzugehen, in das andere Extrem: er wird doktrinär als Physiolog und Anatomiker. Er setzt die psychologischen Elemente zugunsten der physiologischen allzu sehr zurück. Den Kern seiner Methodik bildet die Lehre von der Kontraktilität, der durch starkes Anspannen der Finger bis zur höchsten Höhe hervorgerufenen ausserordentlichen <*126> Muskelkontraktion der Theile, nicht des Ganzen. In der Behandlung des Legato, der Schlagkraft von Finger und Hand, des Staccato, der Fingerschulung, des Oktavenspiels, steht er auf altem Boden, in der der Cantilene, des Tonleiterspiels, der Ornamentik u.a. auf modernem.

A. J. Christiani: Das Verständniss im Klavierspiel

An Riemann, Fuchs, Germer und Lussy ist sofort ein Werk anzuschliessen, das seinen Schwerpunkt noch schärfer und einseitiger in ein theoretisches System des Rhythmus, Accents und Metrums verlegt:

A. J. Christianis "Das Verständniss im Klavierspiel", eine Darstellung der dem musikalischen Ausdruck zugrunde liegenden Prinzipien vom Standpunkte des Pianisten, Leipzig, Breitkopf & Härtel 1886 (Englische Ausgabe New York 1886).

Leider beeinträchtigt seinen Werth das mangelhaft ausgebildete rhythmische Gefühl seines Autors, der in Chopins und Schumanns Rhythmik eitel Schrulle und Manier sieht und da ganz sonderbare Verbesserungsversuche in der Notation mancher Stellen macht. Der Verfasser will, wie er in der Einleitung sagt, "vermittels der Darlegung der Grundsätze des musikalischen Ausdrucks das zu jedem künstlerischen Vortrag nöthige Verständniss erwecken, nicht aber eine Theorie des Vortrags aufstellen oder Ausdruck lehren". Er lässt also alles rein Mechanische, Idealistische, Spekulative, Persönliche und Unlehrbare, alles, was sich auf Technik, Gefühl und Empfindungen bezieht, beiseite und beschränkt sich auf das mit dem Verstande zu Begreifende und Lehrbare. Nach knapper, scharfsinniger Darlegung der Quellen musikalischen Ausdrucks beschäftigt er sich eingehend mit der Theorie der Accente im allgemeinen, des Rhythmus (dem er vergeblich mit methodischen Gesetzen beizukommen sucht und auch hier nur Grammatik und Theorie giebt) und Metrums, mit den "Rhythmischen Accenten" (positive und negative grammatische, charakteristische, metrische, melodische, harmonische), mit der Dynamik und dem Zeitmaass. Da sich seine Ausführungen häufig mit denen des Verfassers unseres Buches im Folgenden berühren, so werden wir von Fall zu Fall noch auf Christianis Systems zurückkommen.

F. Chopin: Notizen zur Méthode des Méthodes

Die übrigen, von Riemann unabhängigen Fortschrittsträger der achtziger Jahre bereiten die moderne Methodik auf verschiedenen Bahnen und mit verschiedenen Zielen vor. Als genialer Praktiker und intuitiver Methodiker:

Frédéric Chopin in seinen kurzen Notizen zur Méthode des Méthodes (deutsch abgedruckt bei J. Kleczynski, Chopins grössere Werke, Leipzig 1898, Breitkopf & Härtel, S. 3-5).

Da jeder Finger verschieden gebildet ist, so soll man nicht jedem unmöglicherweise die gleiche Kraft zu geben versuchen, sondern bedenken, dass jeder die seiner Bildung entsprechende Kraft besitzt. Chopin räumt mit dem Märchen, dass der fünfte Finger zu den schwächsten gehöre, gründlich auf, ebenso mit den vergeblichen, <*127> schädlichen Versuchen, den vierten unabhängig vom dritten zu machen. - Die Bewegung des Handgelenks ist dem Atemholen beim Singen in gewisser Beziehung vergleichbar. Es ist zur Uebung beim Spiel ein- und auswärts zu biegen (Tief-, Hochstellung), beim Unter- und Uebersatz sind die Hände einwärts zu halten. Die Hauptaufgabe besteht in der Wahl eines guten Fingersatzes. Das Studium der Klaviermechanik umfasst drei grosse Theile: 1. chromatische, diatonische Tonleiter und 'Triller, und zwar von den diatonischen nicht die C-dur, sondern die leichteste Ges-dur-Skala zuerst; 2. die Oktave in Theilungen anfangend mit kleinen Terzen, den vollkommenen Akkord in seinen Umkehrungen; 3. Terzen, Sexten, Oktaven, also doppelte Noten in zwei Stimmen. Dabei ist zu beobachten: Triller sind zu studiren mit drei oder vier Fingern, die chromatische Tonleiter mit dem ersten, zweiten, dritten oder fünften, vierten, dritten. In Terzen, Sexten, Oktaven benutze man stets dieselben Finger. Die Gleichmässigkeit der Tonleiter beruht auf gleichmässig fliessender Seitwärtsbewegung der Hände (recte: Arme) bei frei herabhängendem Ellenbogen. Also eine Fülle bereits ganz moderner Anschauungen!

G. Stoewe: Klaviertechnik

Als Schöpfer einer physiologischen Musiklehre des Klavierspiels:

Gustav Stoewe in seiner Klaviertechnik, dargestellt als musikalisch-physiologische Bewegungslehre nebst einem System gymnastischer Uebungen, Berlin 1886, Rob. Oppenheim.

Das erste Kapitel giebt eine kurzgefasste physiologische Anatomie des Armes und der Hand (Knochen, Gelenke, Muskeln) mit Bezug aufs Klavierspiel; dann giebt der Verf. eine systematische Uebersicht über 43 Stellungen der Schulter-, Ellenbogen, Hand-, Knöchel- und Fingergelenke, eine Eintheilung ihrer Bewegungen nach Schwierigkeitsgraden (gewohnte und ungewohnte leichte, schwere natürliche und unnatürliche) und Anzahl der gleichzeitig bewegten Glieder (einfache, in einem Gelenke; kombinierte, im übrigen) und verbreitet sich dann über die physiologischen Eigenschaften der Muskeln. Hierbei stellt er folgende Grundsätze auf: Die Muskeln müssen sich so oft wie möglich ausruhen. Die sich nicht bewegenden Glieder müssen möglichst eine Stellung einnehmen, in der sie die beabsichtigte Bewegung nicht oder möglichst wenig erschweren. - Bewegung der Glieder ist dem Verharren in einer durch Muskelspannung bewirkten Stellung vorzuziehen; wird letzteres gefordert, so ist rechtzeitig ein Nachlassen der Ausspannung durch jene Bewegung zu bewirken. - Bei Ermüdung eines Muskels kann er durch einen andern, gleich funktionirenden als natürlicher Nebenbewegung ersetzt werden. Darauf bespricht Verf. die erschwerte Funktion der Muskeln (bei allzu langer Bewegung, Verharren in schwerer Stellung, Kontraktion eines andern), wendet sich zu der Widerstandsbewegung (wobei er folgert: Eine Bewegung wird desto sicherer, effektvoller, je mehr Muskeln dieselbe ausführen, je grösser das Glied ist, in dessen Gelenk die Bewegung stattfindet, und: wenn zur Erzielung einer Bewegung mehrere Muskeln vorhanden sind, und nicht alle mitwirken sollen, so kann die Bewegung nur mit geringerer Kraft ausgeführt werden) und Muskel-Auslösung (Grundsätze: Ein Muskel, welcher längere Zeit in einem bestimmten Grade von Kontraktion verharrt hat, gebraucht längere Zeit, um vollkommen <*128> ausgelöst zu werden, als ein solcher, welcher mit wechselnder Kontraktion und Expansion gearbeitet hat, und: Das Auslösen eines Muskels ist um so schwerer zu bewerkstelligen, je mehr andre Muskeln sich dabei noch in Thätigkeit befinden). Es folgen das fünfte, den Einfluss der Bewegungslehre auf Spiel- und Lehrmethode behandelnde Haupt-Kapitel, Winke für gymnastische und Stab-Uebungen, für Arm, Hand und Finger zur Vorbereitung der Muskeln und Gelenke für Klavierspiel und die Behandlung der Hände in ungünstigen Fällen. - Also ein ernsthafter Versuch, den bisher scheu gemiedenen klavieristischen Dingen mit der Wissenschaft der musikalisch-physiologischen logischen Bewegungslehre, d.h. derjenigen Wissenschaft, die die für die Klaviertechnik nothwendigen Bewegungen des Armes und der Hand zerlegt, anatomisch erklärt, klassifiziert und in möglichste Uebereinstimmung mit den hysiologischen Gesetzen der Anatomie zu bringen sucht, zu Leibe zu gehen. Freilich alles mit arger Pedanterie und allzu theoretisch, ohne genügende praktische Anwendung. Vieles muthet schon ganz modern an, wie die Heranziehung der Kraftquellen des Schultergelenkes und Oberarmes, die Tonusstellung der Glieder (Herabhängen derselben durch ihre eigene Schwere), Auslösung der Muskeln (mit Uebungen an einem reckstangenähnlichen Apparate zur Stütze des Unterarmes), die durch die physiologischen Muskelgesetze als nothwendig geforderte "grosse Ausruhebewegung" der Oberarmmuskeln durch Herabhängenlassen des ganzen Armes, die Erlaubniss der Oberarmbewegung, -drehung und des Armschwunges, der Innendrehung (Pronation) des Unterarmes, Tastsinn der Fingerspitzen (Fühlton!), Regulierung der Schattierungen durch die Armmuskeln, vieles aber auch, wie z.B. die ausführliche Darstellung des Hand- und Ellenbogengelenkanschlages, der Unter- und Uebersetzübungen (mit schräger Innenhaltung der Hand), Behandlung des 4. und 5. Fingers, rigorose Spannübungen, an Jackson erinnernde unendliche gymnastische Uebungen u. a. veraltet. Seine Ausführungen gipfeln in dem Satze (S. 74) - Die erste Bedingung zu einer guten Technik ist, lose Gelenke zu haben, die zweite, die Gelenke steif machen zu können, und in der Forderung, die physiologische Anatomie des Armes und der Hand als Lehrgegenstand für künftige Berufsmusiker auf den höheren Musikschulen einzuführen. Auch sonst bietet das Werk viel Durchdachtes und Gutes. Den Anschlag unterscheidet S. vom Andruck der Finger auf die Taste, trennt zwischen Senkung, Fall und Wurf der Finger auf die Tasten, Vorbereitungs-, Haupt- und Rückbewegung der Finger, untersucht genau ihre Grösse und Geschwindigkeit und legt Werth auf die Zerlegung der Bewegungen in ihre Theile zur Erleichterung des Lernens. Die Abhängigkeitsbewegungen der Finger sind zu unterdrücken (!), wo die Tongebung durch sie irgendwie Schaden erleiden könnte, dagegen, wo sie wie beim 4. Finger anatomisch-physiologisch bedingt sind, zu gestatten. Tief- oder Hochstellung des Handgelenks ist manchmal geboten.

W. Willborg: Die Grundlage der Technik des Klavierspiels

Als Vorahner des freien Falles, der, steten einheitlichen geistigen Kontrolle und des modernen Arm- und Gewichtsspiels:

Wilhelm Willborg in seiner kleinen Schrift: Die Grundlage der Technik des Klavierspiels, Leipzig 1887, Carl Merseburger.

Der Verfasser theilt die Gesamttechnik des Klavierspiels in das gebundene Spiel mit den Fingern (legato), das nicht gebundene Spiel <*129> mit den Händen (staccato), das ebenfalls nicht gebundene Spiel mit den Armen (auch staccato) und der Thätigkeit des Fusses beim Pedalgebrauch. Ueber eine allseitig befriedigende Technik gebietet nur der, welcher stets bewusst über jede Bewegung der Finger, Hände, Arme und des Fusses beim Pedalgebrauch willkührlich verfügt. Der Verfasser betont die gleich grosse Wichtigkeit einer gleichzeitigen Entwicklung der Hand im Handgelenk, des Armes im Ellenbogengelenk wie die der Finger. Das scheinbare Geheimniss der vollendetsten Technik ist die möglichst ausgebildete Gleichmässigkeit der Bewegung der Finger beim gebundenen Spiel und der Hände und Arme beim nicht gebundenen Spiel. Der Verfasser zeigt sich gleichfalls fortschrittlich in seiner Lehre von der Stellung der Finger auf den Tasten und der dadurch bedingten Haltung der Hand und betont, dass, wenn Finger, Hände und Arme sich die gleichmässigen, technisch-mechanischen Bewegungen, anfangs ganz langsam, angeeignet haben, sie nicht mehr vom Auge geleitet werden, sondern mit dem ersten Blick auf die Noten sich selbst, dem Instinkte des Spielers überlassen sind. Das gebundene Spiel ist die Hauptsache der Klaviertechnik. Wenn er vom "Niederfall" und dessen grösserer und geringer Geschwindigkeit spricht und als Ursache dieser Wirkung gleich hohe Hebung der Finger beim stärksten wie beim leisesten Anschlage verlangt, so ist das noch durchaus ebenso ältere Methodik, wie seine Lehre vom Handgelenk-Staccato und seine Untersatz- und Uebersatzübungen. Aber sein Ausdruck "Niederfallenlassen" ahnt doch bereits den späteren "freien Fall" des Gewichtsspiels leise voraus. "Mit Absicht (S. 25) bediene ich mich des Ausdrucks 'Niederfallenlassen', und zwar als Maassstab für den Grad der Stärke des Anschlags, wie auch der Schnelligkeit jeder einzelnen Bewegung der Hand." Der laute Anschlag mit der Hand (im Handgelenk) oder dem Arm (im Ellenbogengelenk; zu weiteren Kraftquellen gelangt Willborg bezeichnenderweise noch nicht) darf kein Akt physischer Anstrengung oder des verpönten "Schlagens" auf die Klaviatur sein, sondern der Klang muss trotz grösstmöglicher Fülle immer weich bleiben. Und weiter (S. 28): "Die jedesmalige Veränderung der Gestaltung der Hand muss stattfinden, während die Hand sich aufhebt und in die nächste Umkehrung des Akkordes niederfällt." Beim Akkordspielen in dieser Art bleibt also "nichts Andres übrig, als die Tasten eines jeden neuen Akkordes zu übersehen und beim Niederfallen das Treffen dem der Hand innewohnenden Instinkt zu überlassen." Ueber die Bedeutung des Armspieles kommt er freilich in manchem nur erst an die modernen Anschauungen heran. Der Arm muss (S. 30) sich "bei vollkommen ruhiger Haltung des Handgelenks im Ellenbogengelenk aufheben und mit seinem ganzen Gewicht auf die Tasten fallen". Alles für die Bewegungen der Hand Gesagte gilt auch für die Bewegungen des Armes (S. 30). "Der Hauptunterschied zwischen dem Anschlage mit der Hand und dem des Armes besteht in der grösseren oder geringeren Klangstärke, erzeugt durch den Fall der verhältnismässig leichten Hand oder des bedeutend schwereren Armes"; nur durch den ungehemmten Fall des Armes oder der Hand, nicht durch einen Schlag mittels Beschleunigung der Bewegungen beim Niederfallen auf die Klaviatur, darf aber selbst der lauteste Klang hervorgerufen werden. - Das Pedal (S. 34) soll jedesmal unmittelbar nach dem Anschlage, bevor sich die Hände oder Finger von den Tasten wieder aufgehoben haben, niedergedrückt werden.

<*130> Damit stehen wir an der Schwelle der modernen, auf physiologisches Studium der Muskelfunktionen begründeten Klavierspielmethodik. Sie ist ein Extrem der Revolution auf das Extrem der Reaktion. Die nun erscheinenden Schriften gehen sofort weit über das hinaus, was die Riemann, Germer, Stoewe, Willborg von der alten Methodik abweichend lehren. "Man bemerkte, dass mein Hinweis auf die Muskulatur des Oberarmes noch nicht die ja ebenfalls unentbehrlichen Bewegungen des Oberams erklärt, und zog daher auch die Funktionen der Rückenmuskeln mit in die Betrachtung ein. Mehr und mehr gewann es den Anschein, als müsse ein Klavierspieler, um sicher zum Ziele zu gelangen, erst einen gründlichen Unterricht in der Anatomie durchmachen, der ihn vor falscher Disposition über seinen Kräfteverbrauch bewahre".

Damit verwirft die moderne Methodik physiologisch die alte Lehre von der Alleinthätigkeit der Finger ("Fingerspiel"), Hand, des Vorderarms, Knöchelund Handgelenks (Staccato), also von der einseitigen Bethätigung gewisser Muskelgruppen. Ebenso erkennt sie eine "Technik an sich", eine vom übrigen Körper und Geist mit ihrer steten, innigen Wechselbeziehung mechanisch losgelöste Technik nicht an.

Es würde den Rahmen und den Zweck dieses Kapitels weit überschreiten, wollte man die seit etwa der Jahrhundertwende ungeheuer angeschwollene klaviermethodische Literatur auf psycho-physiologischer Grundlage in der gleichen Ausführlichkeit und Exzerpierung der einzelnen Werke wie die vorhergehende behandeln. Es wäre weder lohnend, noch erquicklich. Weder lohnend - weil die Revolution gleich der Reaktion eine zweifellos nur vorübergehende Durchgangsbewegung ist, die noch immer beständigem Wechsel unterworfen ist. Noch erquicklich - weil sie ein wahrer Rattenkönig von unfruchtbaren Streiten um die "Erstgeburt", von Spaltungen, gegenseitigen Befehdungen und eifersüchtelnden Sonderbestrebungen ist, die dem Leser das Bild der grossen Entwicklung nur trüben. Darum sei der einzig fruchtbare Weg beschritten, an der Hand kurzer Charakterisierung der wichtigsten Sonderbestrebungen, wie sie in den Hauptwerken zutage treten, das grosse Allgemeine im Einzelnen klar zu machen.

L. Deppe: Psycho-physiologischen Methodik

Der geistige Stammvater dieser modernen, psycho-physiologischen Methodik ist Ludwig Deppe. Um sein rechtmässiges Erbe - er selbst hat ein schriftlich niedergelegtes klaviermethodisches System nicht hinterlassen - entbrennt der Streit seiner <*131> direkten und indirekten Schüler. Soviel ihrer Schriften aber, so viel Systeme und Richtungen. Wir unterscheiden:

Wir schliessen hier gleich diejenigen Werke an, die man etwa als Spaltungsprodukte, als im einzelnen nach persönlichen Anschauungen weiter ausbauende Variierungen, Weiterführungen oder Bekämpfungen dieser Grundmethoden bezeichnen kann, und die fast alle von der neuen, physiologisch-klaviermethodischen Lehre des modernen Arm- und Gewichtsspiels, des "freien Falles" oder, wie Tony Bandmann früher sagte, des "Wurfes" ihren Ausgang nehmen. Wir nennen nur die wichtigen:

dazu die gesund zwischen älterer und neuer Methodik vermittelnden:

ein physiologisch-anatomisches Werk:

und ein akustisch-ästhetisches:

Von diesen modernen Methoden lassen sich die streng physiologisch-anatomisch deduzirenden unschwer auf Stoewe zurückführen. Die Clarksche Richtung steht in ihrem Rahmen so allein für sich, wie die Leschetizky-Methode.

Das grosse Gemeinsame, welches sie alle von der älteren Methode der Finger- und Knöchelgelenktechnik unterscheidet, ist oben kurz charakterisirt. Hier das einzeln Unterscheidende. Die Clarksche Richtung geht je länger, je mehr in phantastischer, philosophisch-okkultistisch und metaphysisch belasteter Mystik zykloidisch-musikalischer Bewegungsvorstellungen unter, die den Autor naturnothwendig vom Spiel im Stehen auf einer Klaviatur zu dem auf zwei einander gegenüberliegenden Klaviaturen eines Doppelklaviers (Brahms Noblesse, V. Eudämonie-Legende, Zürich 1914, Pianistenharmonie-Presse) führten. Die Deppe-Caland-Methode, <*133> nach Seiten praktischen Elementarunterrichts durch Mary Wurm (Praktische Vorschule zur Caland-Lehre, Hannover 1914, Adolph Nagel) ergänzt, legt die Lehre von der Rückenmuskelspannung, dem Seitenschlag mit feststehendem Ellenbogen, der Vibration (Schüttel- und Zitterbewegungen), der Senkung und Fixierung des Schulterblattes zur Erzielung der Hauptspannung, der engsten Wechselbeziehung zwischen Geist und Willen, der absoluten Lehrbarkeit des schönen Klaviertons für Alle fest. Die Jaell-Methode ist mehr medizinisch-anatomisch abstrahirender, als praktisch-pianistischer Natur und legt in Zusammenhang zwischen der Klangfarbe des Anschlages und der Orientierung der Tastlinien des Fingers besonderen Werth auf die Darstellung falscher und richtiger Anschlagsformen durch Anschlags-Abdrücke. Die Breithauptsche Lehre des modernen Arm- und Gewichtsspiels machte von allen modernen physiologischen Methoden das meiste Aufsehen und hatte auch den grössten Erfolg, der zum Theil mit in der blendenden feuilletonistischen Stylisierung der ersten Ausgabe begründet lag. Sie hat sich mit jeder neuen Auflage zu einem von Grund auf neuen, in den Anschauungen veränderten und in der letzten zu einem ernsten, sachlichen und wissenschaftlich-ruhig gehaltenen Buch gewandelt, obwohl die wissenschaftliche Systematik und Disposition anfänglich nicht gerade die Sache des Autors war. Vielmehr darf man es noch heute als das reichhaltigste und künstlerischste grosse Kompendium der modernen psycho-physiologischen Methodik bezeichnen, das zugleich kritisch zu den übrigen Methoden alter und neuer Zeit Stellung nimmt. Die Leschetizky-Methode steht in der Hohlmuschelhandform mit Ausnutzung der Knöchel als Stützpunkte, der Geistigkeit des Uebens auf neuem und modernem, in dem reinen Fingerspiel vorn auf den Tasten, dem Tiefsitz mit tiefem Handgelenk, der Ausbildung des Unterarmes durch Nachdruck mit der Fingerspitze dagegen noch auf älterem Boden.

Der weitaus grössere Theil der seit der Jahrhundertwende erschienenen psycho-physiologischen Klaviermethoden folgt, theilweise, wie die von Matthay, mit Erhebung von Prioritätsansprüchen, der Lehre vom Arm- und Gewichtsspiel, von Schwung- und Schwerkraft. Die Amerikaner, Engländer und Schotten tragen dazu das meiste bei. Zu den originalsten und besten Schriften dieser Art gehören - um nur die wichtigsten zu nennen - etwa:

Hemmnis und Unglück für die moderne Methodik ist es, dass unter ihren Autoren allzuwenig bedeutende Künstler und Praktiker, dagegen allzuviel Theoretiker und Halbkünstler, allzuviel Mediziner, Psycho-Physiologen und Anatomen sind, wie auch, dass die grossen Schüler-Pianisten als praktische Beweise der grösseren Vorzüglichkeit ihrer Methoden eigentlich immer noch fehlen. Die guten und bei der Verknöcherung und Erstarrung der alten Methodik unbedingt nothwendigen Anregungen, Bereicherungen und Ziele der modernen, physiologisch aufgebauten Methodik in hohen Ehren - die Zukunft gehört den Vermittlern und unter ihnen denjenigen, die zugleich Künstler sind.

J. Pembaur: Das Künstlerbuch

In diesem Sinne begrüssen wir das durchaus subjektive, dichterisch und phantasievoll, romantisch, malerisch-bildhaft und naturbeseelt auslegende moderne Künstlerbuch, wie es in seiner reinsten, tief durch die Mystik und Religiosität der Romantik gegangenen Form Josef Pembaur d. Jg. (Von der Poesie des Klavierspiels, München 1911; Beethovens Sonaten Op. 31 No. 2 und Op. 57, München 1915, beide im Wunderhorn-Verlag) vertritt, gegenüber der einseitig-intellektualistischen und mechanisirend-rationalistischen Entartung der modernen klaviermethodischen Schriften in physiologische Anatomien oder akustische Kollegien als wahre Erlösung.

Denn: "Die Ablenkung des Hauptinteresses des nach Vollkommenheit der Technik Strebenden von dem unweigerlich die wichtigste Grundlage wahrer Künstlerschaft bildenden Verstehen des konstruktiven Wesens der musikalischen Gebilde auf die Oekonomie der organischen Kraftleistungen ist ganz gewiss nicht der Weg zum 'künstlerischen Klavierspiel'.".

Hiermit sei der geschichtliche Ueberblick der methodischen Schriften beschlossen. Keineswegs wird er als ein vollständiger bezeichnet. Es verlohnte vielleicht der Mühe, die angegebenen Werke noch ausführlicher, und andere, die hier nicht im Auszuge mitgetheilt wurden, wenigstens einigermassen zu besprechen.

Als erster Versuch einer Geschichte der Methodik schien aber der hier gegebene Abriss auszureichen, besonders da die weitere Entwickelung die eigentliche Aufmerksamkeit des geneigten Lesers in Anspruch nehmen möchte.

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