Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 4

[Seite 2 von 5]

zurück | weiter

Einige Theoretiker scheiden Technik und Mechanik. Die letztere würde die Gesetze der Fingerkräfte und der zum Spiel überhaupt nothwendigen Glieder- und Gelenkbewegungen untersuchen, und abstrakt, ohne Verband mit irgend einer kompositorischen Inhaltlichkeit, rein im Sinne des vorliegenden physikalisch-mechanischen Zweckes auf bestimmte Formen zurückführen. Die Technik würde diesen Mechanismus im Dienste des kompositorischen Zusammenhanges zu betrachten haben. Eine scharfe Grenzinnehaltung beider Begriffe ist nicht nothwendig und außerdem schwer durchzuführen. Wo hört die Mechanik auf, wo beginnt die Technik? Beides gehört eng zusammen, eine Sonderung würde der Mechanik die Pflicht auferlegen, sich jedes praktischen Beispiels zu enthalten, denn jede noch so kleine Verbindung von Tönen ist schon kompositorisches Atom. Und eine Lehre des praktischen Stoffes ohne Beispiel ist wegen ihrer anregungslosen Abstraktion unpraktisch. So hält es denn das nachfolgende System mit einer Trennung dieser Begriffe nicht genau; die Elemente der ersten Gattung werden vorwiegend rein mechanischer Natur sein, bei allen übrigen wird ein Hineinspielen in die Technik <122> unabweisbar sein; es erscheint am zweckmäßigsten, Mechanik und Technik so ziemlich in Eins zu setzen, da es überdem mehr auf sachliche Genauigkeit, als auf die in keiner Sphäre zutreffende Präcision des Wortlautes ankommt.

Die Mechanik ist die erste und unerläßlichste Bedingung des Klavierspieles. Sie hat zu dem Geiste desselben ganz das Verhältniß, wie die Form zum Inhalte, d.h. sie ist selbst das Ganze, eben so sehr wie der Inhalt, und scheidet sich von demselben nur vom Gesichtspunkte einer anderen Betrachtungsweise, welche der beobachtende Verstand dem Kunstwerke gegenüber einnimmt.

Die Mechanik muß vollkommen sein; so wenig das geschickteste rhetorische Genie den Redner macht, wofern die Zunge stottert, schwerfällig, oder wohl gar der Sprache unmächtig ist, eben so wenig macht das außerordentlichste Verständniß aller Kompositionen, oder die üppigste Phantasie den Klavierspieler, wenn es der Mechanik gebricht. Wo in ihr die geringste Lücke fühlbar ist, wird die Vollkommenheit des Ganzen fehlen, die unscheinbarste Schwäche hemmt die vollendete Entstehung des Ideals; der tiefsinnigste Flug des Gedankens, der feinste Atemzug der Empfindung reichen nicht aus, wenn eine harte Fingerspitze, ein steifes Glied, eine ungeschickte Bewegung dem Inhalte des Willens Hindernisse in den Weg stellen. Wo bloß Verständniß waltet, und die Finger schwerfällig widerstreben, wird die Darstellung zu einem widerlichen Zwitterwesen, das charakterlos zwischen Abstraktion und Kunst schwebt, einer Art unverständlicher Symbolik, darum unschön, weil die Proportionalität ihrer Elemente gestört ist. - Der Dilettantismus stützt zwar oft sein Nichtkönnen auf den wohlfeilen Prunk schöngeistiger Phrasen von Ausdruck. Dies ist eitle Oberflächlichkeit. Das Ideal will in allen Theilen Vollkommenheit sein, denn die Idee ist eben so sehr sinnliche Wirklichkeit, als der Reflex derselben im Geiste.

zurück | weiter
nach oben