Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 10

S. 252 - Texterweiterung der 8. Auflage (1920)

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[Die Seitenzählung entspricht der 8. Auflage.]

<*249> Zum Schlusse noch einige kurze Bemerkungen über das dem "Ueben" entgegengesetzte prima vista - d.h. Vomblattspielen. Man beginne früh mit ihm und lasse nur solche Stücke derartig spielen, deren technische Schwierigkeit hinter der erreichten Fertigkeit des Spielers zurückbleibt. Erfordernisse für diesen sind dabei: gleichbleibende Ruhe, angeborenes rhythmisches Gefühl, die wichtigsten Kenntnißse der Akkord- und Harmonielehre, der Formenlehre, des Kontrapunkts. Spielt der Schüler an schwierigen Stellen falsch, so hat er zunächst weiterzugehen. Im übrigen bemühe er sich möglichst, alles auf dem Papier sogleich in den Ton umzusetzen, sei's auch zunächst um den Preis eines langsameren Tempos oder einiger rhythmisch oder melodisch unklarer Passagen. Ist das rhythmische Gefühl noch nicht genügend ausgebildet, so muß der Schüler laut zählen und durchaus strenge das einmal angenommene Tempo nicht unberechtigterweise verzerren oder verändern. Das vierhändige Vomblattspiel, ein hochwichtiges Bildungs- und Hilfsmittel zum Kennenlernen aller außer-klavieristischen Werke, soll nicht von zwei Anfängern, sondern von einem Ueberlegenen und einem Schwächeren oder von zwei ziemlich gleichweit Gebildeten ausgeübt werden, dabei soll jeder lernen, Secondo und Primo abwechselnd zu spielen und stets auf die Partie seines Nachbars hören und sie beobachten, er soll lernen, rechtzeitig hervorzutreten, sich rechtzeitig unterzuordnen.

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