Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 10

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Das polyphone Spiel.

Es bleibt für den Abschluß des Systems noch eine Gattung der technischen Bethätigung zu besprechen, welche die eben genannte letzte Anforderung in der gedrängtesten und strengsten Weise stellt. Das ist die Polyphonie. Zwar lehnt sie die glänzendere Seite der modernen Erweiterungen im Allgemeinen ab und beschränkt sich vorwiegend auf eine die Klavierräumlichkeit nicht im schnellen Auf- und Niedereilen durchmessende Mechanik. Daß sie aber gerade auf diejenige Handbildung Anspruch macht, welche nach Ueberwindung der Einzelelemente jene erwähnte Präcision der allgemeinen mechanischen Anschmiegsamkeit im höchsten Grade besitzt, erhellt aus Folgendem.

In der Polyphonie, besonders im Fugenspiel, macht sich keine der einfachen mechanischen Formen in solcher Ausbreitung geltend, daß die Technik auf die gymnastische Grundlage im Sinne der ersten Erlernung zurück zu gehen hätte. Das Gleichzeitige der Stimmen und die Verwebung der durchgehenden Figuren in den complicirteren Bau räumlicher Uebereinanderstellung selbstständiger Tonreihen läßt in den seltensten Fällen das mechanische Interesse in dem Sinne etüdenmäßiger Spieleslust aufkommen. Die Vielseitigkeit der hier <249> gleichzeitig gestellten Ansprüche zieht das einfach Mechanische stets in einen ganz besonderen Standpunkt hinein. Das Denken tritt, selbst bei rein technischer Betrachtung, in verschärfter Kraft in das Spiel. Auge und Finger bedürfen einer ganz neuen Geübtheit, wie sie selbst im hellsten Glanze einstimmiger Bravour nicht erfordert wird. Durch die Condensirung des Denkens wird das Interesse aber auch tiefer in den musikalischen Geist hineingezogen, und die Figuration hört auf, in der äußerlichen arabeskenartigen Weise zu wirken. Sie wird nur im Sinne des tieferen Inhaltes verständlich. Die Klavierhand muß also die mechanischen Elemente im einzelnen überwunden haben und zu jener höheren Einheit durchgedrungen sein, welche vorhin erwähnt wurde. - Sobald die Mechanik das Interesse nicht in ihren Geist, sondern in einen höheren verlegt, dem sie dienstbar ist, muß der Standpunkt überwunden sein, in welchem die Spannung der Aufmerksamkeit auf materielle Vorbedingungen hingerichtet war.

Es liegt nun allerdings in der Natur des Stimmgewebes, daß die Figuration sich nicht in der bunten Mannigfaltigkeit breitmachen kann, wie in mehr homophon gehaltenen Kompositionen, oder in Etüden u. dergl. Die Polyphonie stellt der Figuration die Bedingung kleiner Formen, die sich allein für eine Verwebung in mehrere gleichzeitige Stimmen als passend erweist. Das Brillante ist indeß nicht ausgeschlossen, in Händel'schen und Bach'schen Fugen herrscht oft eine muntere, kecke Figuration, und in den Uebertragungen der [Bachschen] Orgelfugen von wird selbst das Handgelenk zu donnernden Oktavengängen herausgefordert. Vorzüglich aber wird der singende Anschlag in allen Formen angewendet. Es ist der ursprüngliche Sinn der Polyphonie, Persönlichkeiten im dialektischen Wechselverkehr zu symbolisiren, und dies ertheilt dem Ausdruck jeder einzelnen Stimme einen mehr vocal-declamatorischen als instrumental-brillanten Charakter. So muß denn jedes Tonatom vom Spieler sinnig überdacht werden, und die <250> Fingerspitze hat die Kunst des gesanglichen Tones in jedem Augenblicke und in allen Schattirungen anzuwenden.

Ein zweiter Grund dafür, daß das allgemeinste und letzte Resultat der mechanischen Bildung für die Polyphonie vorausgesetzt werden muß, ergiebt sich aus dem Umstande, daß die bisherigen im Detail gelernten Regeln des Fingersatzes aufhören, und auf die allgemeinsten Gesetze zurückgeführt werden müssen.

Die im vorhergehenden angegebenen Fingersetzungen ergaben sich aus den Grundformen der Mechanik von selbst, und wurden dabei besprochen. -

Wird die Aufgabe gestellt, eine Theorie des Fingersatzes zu entwerfen, so ist es unerläßlich, auf jene Formen zurückzugehen. Es ergab sich als allgemeines Gesetz die natürliche Folge der Finger für entsprechende Tastenfolgen, Unter- und Uebersatz unter oder über die geeigneten Finger, vor allen Dingen die Grundlage des gebundenen Spiels, der leichteste und naturgemäßeste Anschluß der Fingerfolge an die Tastenfolge. Türk sagte, der bequemste Fingersatz ist der beste; Clementi: der einfachste ist der beste, was ungefähr dasselbe ausdrückt. - Dieses Prinzip gestaltet für die einfachere Tonfolge alle Regeln im Detail, sowohl die früher besprochenen, als noch andere, die sich auf Regularität der Fingerfolge bei entsprechender Regularität der Figuren, auf die Zweckmäßigkeit des Festhaltens einer Handlage so lange es irgend geht, auf die Unterschiede des dritten und vierten Fingers bei Akkordpassagen u. dergl. beziehen, und hie und da als Ergänzung hinzugefügt werden könnten, obgleich sie sich aus dem Früheren von selbst ergeben.

Für das polyphone Spiel gilt ganz dasselbe Gesetz; nur ist seine Ausführung schwieriger, und da dieselbe das Denken mehr in Anspruch nimmt als bei den einfachen Formen, so findet der Ausdruck eine gewisse Erklärung, daß bei dem Fugenspiel die Regeln des Fingersatzes aufhören. Sachgemäß muß die Notiz so lauten: keine, <251> den einfachen Formen geläufige Fingersetzung kann im Fugenspiel in ähnlicher Regularität sich entfalten, weil der Begriff der Vielstimmigkeit einen continuirlichen Wechsel der Tonverhältnisse mit sich bringt. -

Hauptsächlich kommt es beim polyphonen Spiel auf die geschickte Vertheilung der Mittelstimmen an. Der Fingersatz muß sich zuvörderst der Ueberlegung unterordnen, welche für die Ausführung der verschiedenen Stimmen die Räumlichkeit bestimmt. Für das Ganze müssen sich beide Hände so zusammenstellen, als wären sie ein Einziges, eine organische Einheit von zehn gleichberechtigten Spielhebeln, die besonders für die Ausführung der Mittelstimmen sich zu innigster Gegenseitigkeit und Ergänzung verschmelzen müssen. Auge und Finger müssen in der unmittelbarsten Einheit des Willens leben.

Es ereignen sich natürlich auch Fälle, wo die regulären Fingerfolgen eine Zeit lang in dem bequemeren Geleise einhergehen; nur müssen sie jeden Augenblick gewärtig sein, den Bedürfnissen der Polyphonie die Gewohnheit der Regel aufzuopfern. Dennoch bleibt das strengste Legato auch hier für allen Fingersatz das bestimmende Prinzip, nur muß es sich häufiger der ungewöhnlichen Mittel, der Seitenrückung, des stummen Abwechselns auf einer Taste, des Heruntergleitens von einer Obertaste nach einer Untertaste bedienen.

Auch hinsichtlich der Kraftvertheilung stellt sich das polyphone Spiel anders, als die übrigen Spielweisen. Jede Tonreihe soll so vorgetragen werden, als ob sie eine besondere Hand zur Ausführung hätte. Diese Regel erfordert eine Kraftbethätigung des Fingerspiels in reinster Form, wie sie bisher nirgends zur Anwendung kam. Das früher besprochene Doppelgriffspiel ist nur eine verstärkte Monophonie, die zwar größere Anstrengung beansprucht, aber durch den Zug der Regularität in die Bequemlichkeit eines bestimmten Geleises übergeleitet wird. Ein solches fehlt im polyphonen Spiel, <252> und überdem entfaltet sich hier die Vielstimmigkeit in einer volleren und ausgedehnteren Weise, als jemals im Terzen- oder Sextenspiel. Der Anschlag des Knöchelgelenkes und die singende Druckweise der Fingerspitze werden in einer Continuirlichkeit angestrengt, wie sonst nirgends, so daß die altherkömmliche Anschauung, im Fugenspiel zeige sich das Non plus ultra der Fingertechnik, ein gewisses Recht hat.

Uebersehen soll dabei freilich nicht werden, daß in der Rapidität der Monophonie in anderer Weise eine Kraft der Finger herausgefordert wird, die der besprochenen ebenbürtig ist. Jedes ist in seiner Weise bedeutsam, und nur im Verein aller Formen beruht die Vollendung.

[Textzusatz der 8. Auflage]

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