Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 12

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Zweiter Abschnitt. Der Vortrag.

Zwölftes Kapitel. Ueber den Antheil der Mechanik am Vortrage.

<257> Der zweite Theil des hier vorliegenden Lehrstoffes behandelt das Klavierspiel von seiten seiner geistigen Erfassung. Der erste gab die sinnlichen Vorbedingungen; vom ganzen Stoffe die Elemente.

Es wird hierbei - wie bereits im vierten Kapitel geschehen - noch einmal auf die nicht genügende Präcision des Sprachgebrauchs aufmerksam gemacht. Der begriffsmäßig denkende Verstand befindet sich stets in Verlegenheit, wenn er für Unterschiede, die sich nur um der Darstellung willen ergeben, nach Worten sucht. In Wahrheit ist das hier in zwei Abschnitte und mit verschiedener Ueberschrift Getrennte ein Einiges, Ganzes. Das Schöne ist nicht minder im Allgemeinen, als das Klavierspiel in seiner bescheidenen Sondersphäre ein organisch Zusammengehöriges, das alle Eigenschaften, die ihm zukommen, zugleich besitzt. Der wissenschaftliche Verstand begeht etwas der Wahrheit schlechthin Widersprechendes, wenn er das, was zugleich in- und miteinander besteht, nacheinander darstellt. Nur um der Genauigkeit des Erlernens willen ist die Trennung nothwendig. Die menschliche Fassungskraft ist einmal auf ein Nacheinander construirt.

<258> Nach dieser Vorausschickung wird die Ueberschrift dieses Abschnittes ebenso berechtigt als unberechtigt erscheinen; das Erstere, weil die Mechanik die Aufgabe des Klavierspiels allein nicht löst, und geistige Elemente noch hinzutreten müssen; das zweite, weil die Mechanik überall ein Hauptwort mitzureden hat. - Das Verhältniß zwischen Mechanik und Vortrag ist im Allgemeinen Folgendes.

Einmal ist die Mechanik das Material, in welchem der Spieler formt - ohne vollendetes Material giebt es kein vollendetes Kunstwerk. Zweitens ist sie selbst schon Kunstwerk, und steht in dem Bereiche der Klavierkunst viel höher, als etwa der Marmor in dem der Sculptur. Sie ist ein mit vieler Mühe und mit besonderer Einsicht präparirtes Material, zu dessen Ueberwindung nicht fremde Vermittelung herangezogen wird, sondern die ununterbrochene eigene künstlerische Lebenskraft, so daß sie ein integrirender Bestandtheil der physischen und seelischen Kräfte des Ausübenden werden muß. Sie ist ein glänzender Schatz, dessen mühsam gewonnene Glätte mit steter Sorgfalt vor dem leisesten Hauche eines rostigen Anfluges bewahrt werden muß. Dieses mechanische Material steht überdem in der Schwebe zwischen concreter Sinnlichkeit und Geistigkeit. Seine Theile liegen nicht räumlich neben einander, so daß die Phantasie darin wählen und davon herausnehmen kann; sie liegen in der Fähigkeit der künstlerischen Hand. Ihr Nerven- und Muskelgefühl muß so genau mit dem geistigen Bewußtsein verwachsen sein, daß sie jede auf eine bestimmte Lebensäußerung gerichtete Thätigkeit genau nach dem Inhalte des Willens vollzieht. Die Formen liegen also nicht concret neben einander, sondern ideell in der geistigen Sphäre des Gedächtnisses und der physischen Geschicklichkeit.

Ferner unterscheidet sich die Mechanik von jedem anderen Materiale dadurch, daß sie in steter Lebendigkeit alle Lebenserscheinungen des Klavierspiels von Anfang an bis in die höchsten Regionen anschmiegend begleitet. Jedes andere Kunstmaterial, einmal beschafft, <259> überhebt den Künstler ähnlicher Sorge und gestattet ihm, sich ganz der Idee hinzugeben. Die Klaviermechanik drängt sich auf allen Standpunkten mit in die ersten Fragen ein. Unerbittlich schneidet sie jeder höheren Entwickelung den Eintritt ab, wofern sie nicht ihr volles Recht erfahren hat. Der Künstler kann auf ihr nie so sicher fußen, wie etwa der Maler auf Leinwand und Farbe, der Architekt auf Baumaterial, sondern muß in den geistigsten Höhepunkten einen Theil der vollen Kraft der Rücksicht auf dieses Material widmen. Man stößt heutzutage in vielen Kreisen auf eine Unterschätzung der Technik als Sonderkunst. Allerdings ist die Zahl der Pianisten, welche vom rein mechanischen Standpunkte aus alle vorkommenden Schwierigkeiten beherrschen, in den letzten Dezennien so rapide gestiegen, daß jede Erscheinung, welche kein weiteres Verdienst als Brillanz des Spiels aufzuweisen hat, von vornherein für die Oeffentlichkeit verloren ist. Daraus folgt jedoch in keiner Weise, daß die Technik nicht nach wie vor die conditio sine qua non für jede Kunstleistung bildete; denn das Ideal soll und darf nach keiner Seite hin Mängel zeigen. Die einzige Frage, die überhaupt einer Beantwortung werth ist, bleibt höchstens die, ob in jetziger Zeit, wo der Virtuosität an sich keine Lorbeeren mehr wachsen, noch das Studium jener großen Menge von Kompositionen lohnt, welche für eben diese Virtuosität allein geboren sind. Und diese Frage muß bejaht werden; denn erstens sieht der Spieler mit größerer Freiheit auf die Technik derjenigen Werke herab, welche rein die edelste Richtung vertreten, wenn er die hier in erhöhtem Maaße vorkommenden Schwierigkeiten überwunden hat; und zweitens soll der Schönheitssinn, trotz aller Hinneigung zum Erhabensten, auch niedere Elemente mit Liebe auffassen.

Die technischen Schwierigkeiten sind dreifacher Natur. Es handelt sich nämlich zuerst um die Erlernung der bloßen Gelenkbewegungen bis zur größtmöglichen Präcision und Schnelligkeit, sodann <260> um die Verwerthung derselben bei den in der praktischen Literatur vorkommenden Passagen. Es sind dies zwei Seiten des Studienmaterials, welche sich etwa auf dem früher berührten theoretisirenden Unterschied von Mechanik und Technik im prägnanten Sinne reduziren ließen. Zugegeben, daß die Praxis diese beiden Elemente stets vereinigt bringt, mag es doch immerhin gestattet sein, die Antithese wenigstens der Genauigkeit halber aufrecht zu erhalten, um so mehr, als der Bildungsgang jedes Pianisten den Beleg giebt, wie sehr das Verhältniß variirt, in dem bald das eine, bald das andere bevorzugt wird.

Demgegenüber kann eine dritte Seite von technischen Schwierigkeiten nicht genug urgirt [betont] werden, welche sich einerseits über beide vorgenannten Gattungen erstreckt, andrerseits gradewegs auf den Punkt hinzielt, wo sich Geist und Mechanik berühren, ich meine die Qualität und Quantität des Anschlags. Die durchgebildetste Technik, welche in den schwierigsten Passagen alle Stärkegrade, sämmtliche Schattirungen des Tones umfaßt, ist zwar noch keineswegs das, was allein einen geist- und gemüthvollen Vortrag garantirt; doch ist sie ihrem Ziele, für den Fall, daß der Spieler überhaupt ein musikalischer Mensch ist, beträchtlich näher, als die klarste Erkenntniß von einer idealen Gestaltung des Vortrags, der ein mangelhaftes Fingergefühl den Ausdruck versagt. Mit der bloßen Empfindung ist grade beim Klavierspiel wenig genug gethan, denn das Pianoforte hat nicht einmal den Vorzug eines continuirlichen Tones, welcher dem unmittelbaren seelischen Bedürfniß noch am ersten entspricht; und die möglichst genaue Copie einer Vortragsweise, welche für die Geige paßt, ergiebt noch lange keine schöne Klaviergestaltung. Wenn nun aber wirklich sämmtliche geistigen Vorbedingungen zu einem durchaus künstlerischen Vortrag vorausgesetzt sind, so verlangt immer noch die bloße Verfeinerung des Tones bis zum ppp in vollster Klarheit, zum ff in reinster Klangschönheit, namentlich im Gesangston <261> ein Studium, dessen Ende kaum abzusehen ist. Das Studium der technischen Bravour hat seine Grenzen. Die Passagenbildung gruppirt sich unter die im vorigen Abschnitt besprochenen Hauptformen dergestalt, daß man mit Absolvirung derselben einen Pianisten technisch reif nennen kann. Demgegenüber ist die Zahl der Anschlagsfeinheiten so unbegrenzt, wie die Fähigkeit der musikalischen Charakteristik überhaupt.

Zu den mühsamsten Errungenschaften der Technik gehört z.B. ein feines piano; und selbst damit liegt erst die Möglichkeit einer weiteren Verfeinerung des Tones vor, und jedes neue decrescendo, jedes Heraustretenlassen einzelner Töne will neu studirt sein. Jedes Musikstück von Bedeutung hat seine bestimmte Physiognomie und will individuell erfaßt sein; damit ist die Nothwendigkeit eines auf eben diese Individualität gerichteten technischen Studiums geboten, welches sich bei einem durchgebildeten Spieler viel, viel mehr auf Nüancen, als auf Passagentechnik erstrecken wird. Mit einer nur geistigen Durcharbeitung ist es nicht abgemacht. Die klare Erkenntniß irgend einer Nüance sichert noch nicht ihre Ausführung. Ein Versäumniß im Studium des Anschlags jeder Spezialstelle läßt noch immer die Möglichkeit offen, daß ein einziger unbeabsichtigter Druck dem ganzen Vortrag einer Cantilene ein anderes Gepräge giebt. Ein berühmter Gesanglehrer antwortet auf die Frage nach dem Geheimniß des Vortrags, dieStimmbildung umfasse neunundneunzig Hundertstheile desselben. Die Bildung des Anschlags spielt beim Klavierspiel dieselbe Rolle, und nichts ist darum trivialer, als durchaus einen kalten Vortrag auf geistige Leere reduziren zu wollen. Von der Empfindung ist noch ein gewaltiger Schritt zu ihrem technischen Ausdruck.

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