Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 14

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Die zweite Hälfte der dieser Nummer unterzuordnenden Fälle umfaßt die melodiösen, meist thematisch entworfenen Gedanken, welche zwar im Sinne des Gesanges conzipirt sind, aber mit den dem Klavier eigenen, der Gesangstechnik überlegenen Mitteln dargestellt werden. Namentlich ist es die Freiheit und Leichtigkeit der Klavierpassagen, die bei der Bildung solcher Gedanken mit in der Phantasie liegen, und welche den Klaviermelodien vor denen des Gesanges die größere Flüssigkeit der Ornamentik hinzufügen. Andererseits benutzt das Klavier den größeren Stimmumfang seiner Töne und beschränkt das gesanglich Zusammengehörende nicht auf die engen Grenzen eines einzelnen Stimmregisters. Es bezieht Töne aufeinander, die oft um mehrere Oktaven auseinanderliegen, ganz so, als ob sie dem Bereiche einer Singstimme gehörten. Diese beiden Erweiterungen muß der Spieler mit in den Gedanken der musikalischen Phrasen aufnehmen, den Vortrag aber ganz den vorher besprochenen Regeln gemäß einrichten. Es ist also im ganzen nichts Wesentliches hinzuzufügen; die musikalische Vorstellung muß entweder den gedanklichen, den vokalen Kern im Flusse der Passagen entweder auffinden, oder dieselben, wo ihr Charakter es erfordert, selbst als <312> vollständig gesungen mit den Mitteln des Klaviers denken und demgemäß accentuiren.

So fängt z.B. das Thema der Beethoven'schen C-dur-Sonate Op. 53 mit einer reinen Klavierpassage an, die mit dem Handgelenke ausgeführt wird. Der gesangliche Kern liegt in dem dreizehnmaligen e der Oberstimme, natürlich nicht als ein so oft wiederholter Ton, sondern als ein einmaliger. Derselbe findet seinen Fortgang in fis, das die Klavierauffassung der ersten Figur entsprechend durch einen zweimaligen Handgelenkanschlag giebt, der Gesang aber ebenfalls nur als einen Ton vorstellt. Der höchste Ton g ist der Gipfelpunkt des Motivs und erhält den Hauptaccent; diese Note ist im Klavierthema nur einmal gegeben. - Die folgenden Sechzehntheilnoten sind freilich zunächst wirklichem Gesange in dem vorgezeichneten Tempo unausführbar; sie enthalten aber, ausgehend und sich entwickelnd aus dem flüssigen Geiste des ganzen Anfangs, eine so natürliche Steigerung des Ausdrucks, daß die gesangliche Vorstellung sofort eine ihrem innersten Wesen analoge Fortbewegung darin erkennt, die sie in ihren Mittel vielleicht mit wenigeren und langsameren Noten geben würde, die sie aber auf dem Standpunkte des Klaviers natürlich findet, und über deren Accentuation sie keinen Augenblick in Zweifel bleibt. - Dieser Punkt ist von Wichtigkeit, denn die Themen vieler Sonaten, Rondo's und Salonstücke sind in dieser Weise entworfen und beanspruchen eine entsprechende Darstellung. Daß die Passage sich zuweilen in ihrem reinen Figurenreize geltend macht, kann natürlich nicht fehlen, und ist in solchem Falle ihre Accentuation den bekannten Regeln gemäß auszuführen. Die Logik des rhythmischen Denkens wird auf eine strengere Probe gestellt, als bei reinen Cantilenen oder Passagen, um so mehr aber ist die Sorgfalt des Vortrags gerade in der Darstellung solcher Klavierthemen zu fordern und zu üben. - Die Klarheit der Gliederung, die Steigerung der Bewegungsmomente zu ihrer <313> höchsten Lebhaftigkeit, die Gipfelpunkte des Ausdrucks sind hier wie überall die scharf im Auge zu behaltenden Stellen und erhalten als Hauptbegriffe, ganz wie in den einfachen Cantilenen, die schärfere Betonung.

So ist z.B. das Thema der F-moll-Sonate Op. 57 in folgender Weise zu accentuiren

[Notenbeispiel S. 313, Nr. 1: Beethoven, Klaviersonate op. 57 - 1. Satz]

Das höchste f hat den stärksten Accent; am Ende hat e noch einen milderen gesangartigen. -

Das Menuett in der Beethoven'schen Sonate Op. 22 [3. Satz]hat zwei sehr schöne Steigerungen; die eine fällt in den Vordersatz und erhält den Hauptaccent auf e im vierten Takte, die zweite im siebenten Takte auf g; der achte Takt erhält, wegen der Symmetrie mit dem vierten, auch noch einen schwächeren Accent:

[Notenbeispiel S. 313, Nr. 2: Beethoven, Klaviersonate op. 22 - 3. Satz]

Das Thema des Finales in der D-moll-Sonate Op. 31 hat schon in dem Motiv einen gesanglichen Ton und muß denselben ein wenig hervorheben, obwohl es ganz klavierpassagenartig gehalten ist u. dgl. m.

Das Thema von Liszt's E-dur-Polonaise hat in den ersten beiden Takten den Ton auf cis, während der Hauptaccent in den vierten Takt auf gis gelegt werden muß.

Der Allegroeinsatz von Weber's F-moll-Konzert hat drei Accente: <314>

[Notenbeispiel S. 314, Nr. 1: Weber, Klavierkonzert f-moll - 1. Satz]

den ersten wegen der Tonhöhe, die beiden anderen aus metrischen Rücksichten.

Eine Passage, wie die folgende aus Henselt's F-moll-Konzert, 1. Satz, begnügt sich mit metrischen oder gesanglichen Accenten:

[Notenbeispiel, S. 314, Nr. 2: Henselt, Klavierkonzert f-moll - 1. Satz]

Im Thema der Chopin'schen Es-dur-Polonaise wird der erste Takt nur den ersten Ton markirt verlangen; im zweiten Takt sind die Accente irregulär, sie fallen auf das zweite und sechste Achtel, aus Rücksicht auf Synkope und Tonhöhe.

Indem wir somit die Passage in ihrer reinsten Gestalt, hierauf die Cantilene und drittens die Vereinigung beider Formen in den Klavierthemen betrachtet haben, sind wir dem Materiale in seinem ganzen Umfange gefolgt, und es bleibt nur noch übrig, das Zusammentreffen der genannten Ideen zu gleichzeitiger Verbindung einer kurzen Erörterung zu unterwerfen.

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