Kullak: Ästhetik des Klavierspiels - Kap. 15

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4. In vielen, besonders in größeren, ernsteren Kompositionen hat der Theil, welcher sich mit der Durcharbeitung eines Gedankens in verschiedenen harmonischen Verhältnisstellungen oder in kontrapunktischer, fugenartiger Weise beschäftigt, seinem allgemeinen Charakter <327> nach Unruhe, Aufregung, zum Inhalt. Seiner Ausdehnung halber wird ein einziges Crescendo nicht gut möglich sein, sondern es wird eine Abwechslung von Crescendo und Decrescendo eintreten. Ueberwiegend wird aber die erstere Tonfarbe anzuwenden sein, in manchen Fallen sich gegen Ende erst das Decrescendo einstellen, Ein treffliches Beispiel für ein lang sich hinstreckendes Crescendo enthält der Durchführungstheil vom 1. Satz in Schumanns G-moll-Sonate.

Auch gehören hierher alle Fälle, die nur in geringerer Ausdehnung eine Wiederholung desselben Motivs oder Gedankens in ruhigeren Theilen einer Komposition behufs einer Ueberleitung zu anderen Gliederungen enthalten. In solchen wird sich - allerdings mit Rücksicht auf den allgemeinen Charakter - ein Decrescendo ebensogut wie ein Crescendo rechtfertigen lassen. Eins von beiden muß aber der Abwechslung wegen eintreten. Das Crescendo spannt direkt die Erwartung, das Decrescendo indirekt, indem es das Ende eines Gedankens bezeichnet, oder ein Abschiednehmen, ein sich Entfernen, wonach aber der Eintritt von etwas Anderem in Aussicht gestellt wird.

Ueberhaupt ist auch die malerische Wirkung beider Nüancen an rechter Stelle zu beachten. Das Crescendo bezeichnet oft ein sich Nähern, ein Hereinbrechen von Kräften und Mächten, und in solchen Fällen das Pedal mit dem Aufgebote aller Kräfte zu vereinigen; das Decrescendo haucht den wehmüthigen Zug des Verscheidens, Ausathmens, oder des Hinweggehens, das sehnsüchtige immer weitere und weitere Entschwinden eines Objekts, in das Tonbild. Die Musik ist das romantische Kaleidoskop, das in seine schönen, räthselhaften und dunklen Spiegelflächen Gefühlserinnerungen aus wirklichen Lebenserscheinungen bereitwillig aufnimmt und mit seinen eigenen Bestandtheilen mischt.

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