Marpurg: Anleitung zum Clavierspielen

Kap. 1.9.2.2.1

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Zweytens. Von dem Accent.

<46> Der Accent besteht in der Aufhaltung einer Note durch eine vorhergehende, oder in der Aufhebung derselben durch eine folgende: Jenes heißt ein Vorschlag, dieses ein Nachschlag. Der Vorschlag geschieht mit einer Wechselnote, der Nachschlag mit einer durchgehenden Note.

I. Von dem Vorschlag.

§ 1. Der Vorschlag heißt auch sonst Vorhalt, und besteht derselbe, wie eben gesagt worden, in der Aufhaltung einer Note durch eine vorhergehende. Es wird derselbe entweder durch gewisse Zeichen oder durch kleine Hülfsnötchen angedeutet, oder ordentlich ausgeschrieben. Die erste Bezeichnung ist nicht viel mehr gebräuchlich, oder man kann sie <47> nur bey den allerkürzesten Vorschlägen gebrauchen. Man bediente sich aber ehedessen hiezu bald eines einfachen Kreuzes, wie bey Fig. 11. Tab. III. bald eines kleinen Häckgens, das man vor die Note setzte, wie bey Fig. 12. und bald eines kleinen schrägen Striches, wie bey Fig. 13. Nachdem nach der Zeit die längern Vorschläge aufkamen, so fieng man an, die kleinen Hülfsnötchen und mit denen die zweyte Bezeichnung dieser Manier einzuführen.

NB: Tab. III. Fig. 11-13

§ 2. Es ist aber bey diesen Hülfsnötchen darauf zu sehen, daß sie nach dem Wehrte, den sie haben sollen, geschrieben werden, und daß wenn der Vorschlag etwan ein Viertheil oder gar eine halbe gelten soll, man denselben nicht mit einem Achttheil oder gar mit einem Sechzehntheil andeute. Man sehe z.E. Fig. 14. Tab. III.

NB: Tab. III. Fig. 14

Wenn nun solches wie bey Fig. 15. gemachet werden soll, wie wird man dieses errathen? man muß also die Note, womit der Vorschlag gemacht wird, nach dem Wehrte, den sie haben soll, schreiben, und da wird es auf die Art, wie bey Fig. 16. ausfallen.

NB: Tab. III. Fig. 15-16

Dieses ist um so vielmehr alsdenn nöthig, wenn verschiedne zusammenspielende Personen in Einklängen oder Octaven fortgehen, oder von verschiednen Stimmen zugleich Terzen oder Sextenweise, wie bey Fig. 17. (a) oder in der Gegenbewegung wie bey Fig. 18. (a) ein Vorschlag gemachet, und wie bey (b) in beyden Fällen gespielet werden soll.

NB: Tab. III. Fig. 17-18

Was für eine schöne Wirkung wird sich der Setzer zu versprechen haben, wenn er nicht Sorge getragen, den vielen Ausführern von verschiedner Empfindung und Denkungsart, die doch so wenig als der Componist eine himmlische Eingebung haben, das Rätzel zum voraus zu erklären? Insbesondere ist dieses bey Pausen, Puncten und Bindungen nöthig. Wer wird z.E. errathen, daß die Gänge bey Fig. 19. 20. 21. Tab. III. so wie bey Fig. 22. 23. 24. gespielet werden sollen?

NB: Tab. III. Fig. 19-24

§ 3. Nichts destoweniger aber ist man bey der verbesserten Schreibart der langen Vorschläge, da man sie nach ihrer Geltung, ob gleich mit kleinern Nötchen, ausdrücket, wie z.E. bey Fig. 26. 27. ebenfalls annoch Ungleichheiten unterworfen.

NB: Tab. III. Fig. 26-27

Man bleibet allezeit noch etwas undeutlich, ob man gleich nicht ganz unverständlich ist, wie bey der vorigen durch aus verwerflichen Art. Zum wenigsten ist auch diese verbesserte Art mit vielem Nachsinnen verknüpfet, ein Umstand, den man einem Leser <48> ersparen könnte. Es kostet ja nicht mehr Mühe, den Vorschlag ordentlich seiner Zeit gemäß in den Tact einzutheilen, und eine ordentliche Note daraus zu machen. Und dieses ist die dritte Bezeichnung dieser Manier. Bleibet der Satz bey dem Vorschlage im Gehöre rein, so wird er es auch für die Augen bleiben. Wird die Reinigkeit durch den Vorschlag verletzet, so macht es das Nötchen nicht gut, und der Vorhalt taugt eben so wenig, als da wo Quinten oder Octaven daraus entstehen. Das beste und vernünftigste ist also, daß man keine Hülfsnötchen gebraucht, als da, wo die alten Zeichen brauchten, d.i. bey den kürzesten Vorhälten, Fig. 39. 40. und da ist einerley, wie vielmahl alsdenn die kleinen Nötchen geschwänzet sind. Bey längern Vorschlägen ist es allezeit besser, denselben ordentlich auszuschreiben, so galant es auch aussieht, solches nicht zu thun. Entsteht daraus aber eine andere Wirkung? vielleicht eine schlechtere, wenn man die rechte Geltung in der Geschwindigkeit verfehlet. Diese Wirkung aber ist nicht die beste.

NB: Tab. III. Fig. 39-40

§ 4. Uebrigens müssen alle Vorschläge, oder vielmehr alle Noten, womit sie gemachet werden, es sey in was für einer Fortschreitung es sey, gerade auf den Anschlag fallen, so wie alle Wechselnoten. Folglich ist es falsch, wenn die Exempel bey Fig. 28. und 29. Tab. III. wie bey Fig. 30. 31. oder gar wie bey Fig. 32. 33. (welches sonst alles ganz gut ist, aber nicht hier) vorgetragen werden. Sie müssen gegentheils wie bey Fig. 34. 35. gespielet werden.

NB: Tab. III. Fig. 28-35

Ein berühmter französischer Organist, Nahmens Boivin schreibt in dem Vorbericht zu seinem 1690 herausgegebenen I. Livre d'Orgue bey der Erklärung des Zeichens, womit er den Vorschlag andeutet: Il faut que cette note (womit man den Vorschlag macht) frappe directement contre la Basse, und giebt davon das bey Fig. 36. Tab. III. befindliche Exempel mit der dabey befindlichen Wirkung.

NB: Tab. III. Fig. 36

§ 5. Die Regel zur Ausübung des Vorschlages ist diese: daß die Note, womit derselbe gemacht wird, allezeit etwas stärker als die Haupt- oder Substantialnote vorgetragen, und an solche leise herangeschleifet werden muß. Dieses ist nun wohl nicht auf dem Flügel, wohl aber auf dem Clavichord, und dem Bogenflügel thulich. Wenn man nach einem langen Vorhalte <49> die Hauptnote sehr schwach und sich gleichsam verliehrend hören lässet, so nennet man diesen Proceß einen Abzug.

§ 6. Wir werden aus den vorhergehenden Exempeln gesehen haben, daß der Vorschlag sowohl steigend, das ist von unten nach oben, als fallend, das ist von oben nach unten angebracht werden kann. Wir bemerken also hier noch, daß solches nicht allein stuffenweise oder angeschlossen, das ist, mit dem nächsten an der Hauptnote gelegnen Tone, sondern auch springend, das ist, mit einem entferntern Ton geschehen kann. Wenn dieser entferntere Ton ex abrupto genommen wird, so muß er als Hauptnote entweder vorhergegangen seyn, wie bey Fig. 37. 38. Tab. III. oder er muß zur Harmonie der Note gehören, vor welcher er gemachet wird. Tab. III. Fig. 46. In diesem letzten Falle aber ist es nur ein uneigentlicher Vorschlag, indem der eigentliche nemlich allezeit mit einer Wechselnote geschehen muß.

NB: Tab. III. Fig. 37-38, 46

§ 7. Gleiche Bewandniß hat es mit Fig. 41. Tab. III. Es ist solche nemlich nichts anders, als eine aus zwey Noten bestehende Setzmanier, die aus einer verkürzten Hauptnote und darauf durch einen Punkt verlängerten harmonischen Nebennote besteht, und keinen Nahmen hat, und welche besser, so wie sie gemacht wird, geschrieben wird, nemlich wie bey Fig. 42. Tab. III.

NB: Tab. III. Fig. 41-42

§ 8. Wenn bey einem Vorschlage mehrere Stimmen verhanden sind, so müssen die Gegenstimmen deßwegen nicht verzögert, sondern solche sogleich mit der vorschlagenden Note gegriffen, und muß nur allein die Hauptnote, auf welche sich der Vorschlag bezieht, verzögert werden. So wird z. e. Fig. 43. Tab. III. wie Fig. 44. gespielet.

NB: Tab. III. Fig. 43-44

§ 9. So wenig übrigens ein Vorschlag einen Quintengang, z.E. den bey Fig. 3. Tab. VI. retten kann, so wenig muß man mit einem Vorschlage zu fehlerhaften Gängen Anlaß geben, wie bey Fig. 4.

NB: Tab. IV. Fig. 3-4

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