Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 7 von 20]

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Vom Kirchen=Styl besonders. [§. 34-69]

Der gebundene Stil

<73> §. 34. Will nun iemand wissen, wie es mit dem gebundenen, einstimmigen und eigentlich=sogenannten Kirchen=Styl, welcher nicht etwa von einer zierlichen Klang=Bindung, sondern von den damahls gebräuchlichen an einander gefesselten ungeheuren Noten=Zeichen den Nahmen hat, beschaffen sey, und auf was Art man mit demselben umgehen müsse, der darff nur ein Paar Meß=Bücher betrachten, die sonst Missalia [FN: ...] genannt werden, worin die Kirchen=Gebräuche, oder Ordnungen, des äusserlichen Gottes=Dienstes stehen, und die, nach den Gregorianischen erdichteten acht Ton=Arten abgefassete Eingänge, Gegen=Gesänge, Epistel= und Stuffen=Lieder, samt den Beantwortungen des Chors &. auf suchen, so wird er seine Begierde bald stillen können.

§. 35. Ich will doch das leidlichste und kürtzeste Exempel, das vieleicht zu finden ist, denen zu gefallen hieher setzen, die kein solches Missale gesehen, noch fürs erste durchzublättern Gelegenheit haben. Es könnte wol geschehen, daß ich dergleichen Muster mehr, bey einem oder andern Vorfall, einschaltete; aber von allen kan man es nicht begehren, ob es gleich thunlich wäre, wenn das Werck nicht dadurch gar zu weitläuffig würde.

Notenbeispiel S. 73

§. 36. Der Schlüssel ist ein Tenor, und das Zeichen deutet f an, welches auf der zweiten Linie stehet, <74> also, daß es der dorische Modus ist. Dieses heißt ein Eingangs=Vers oder Introitus. Die Gegen=Gesänge nennet man Antiphona; die Stuffen=Lieder Gradualia; die Beantwortungen Responsoria, worüber man die Auslegung sowol, als von den damahligen Ligaturen, in den Wörter=Büchern zu Rathe ziehen kan. Bey den Evangelischen sind noch einige Uberbleibsel dieses Styls vorhanden, als die in hohen Fest=Tagen gebräuchlichen Praefationes, die Collecten am Sonntage und in den Vespern, die Absingung der Einsetzungs=Worte, das Gloria, das Vater=Unser &. welche vor dem Altar gehöret werden; bey den Catholischen aber trifft man in ihren Stifftern die Menge davon an, absonderlich die 7 Bet= und Singe=Stunden in den Dom=Stifftern, Horae canonicae genannt, die in den musicalischen Wörter=Büchern wol einer kleinen Erklärung bedürfften.

§. 37. Wegen einiger Verwandtschafft und Verbindung wurde dieser gebundene Styl, der, wie gesagt, nur einstimmig ist, vor Alters von einigen auch der Capell=Styl benahmet, wenn nehmlich über einen solchen einfachen gebundenen Gesang, der fest und unbeweglich von der Tenor=Stimme oder von einer andern fortgeführet wurde, die andern Capell=Stimmen mit vieler bunten Geschicklichkeit ihre vermeinte Kunst bewiesen: denn dabey war man ebenfalls an gewisse Schlüsse, enge Schrancken und gesperrte Intervalle gebunden. z.E. die Absätze in die Tertz und Quart musten sich ausmustern lassen; die Gräntzen der geborgten Ton=Arten wurden gewissenhafft von den selbständigen unterschieden; es durffte sich in dem Haupt=Gesange kein Sprung in die Sext melden, und was dergleichen Zwang mehr war. Man mag solches mit gutem Rechte eine gefesselte Setz=Art nennen; wenn gleich noch so viel Zierrathen und Künsteleien dabey vermacht wären.

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