Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 8 von 20]

zurück | weiter
Der Motettenstil (1)

§. 38. Wir können inzwischen heutiges Tages auch Psalmen und geistliche Lieder machen, GOtt damit zu ehren, zu loben und in der Gemeine zu preisen, Andacht und Erbauung zu erwecken: wie denn das eigentliche Abzeichen aller Kirchen=Music und ihre eintzige Vollenkommenheit darin bestehet, daß sie zur Gottesfurcht auf eine vernünfftige, bedachtsame, einmüthige, edle und ernsthaffte Weise anreitze; aber wir richten uns nicht nach dem gebundenen Styl, und wissen seiner, auch in dem Choral=Gesange, gar wol zu entbehren, indem wir dergleichen geistliche Oden nach der melismatischen Schreib=Art einrichten, welche, Statt der [FN ...] gebundenen, bey uns eingeführet ist.

§. 39. Wollen wir nun weiter gehen und betrachten, was der Moteten=Styl für Eigenschafften habe, so darff man nur Hammerschmidts, und seines gleichen, Wercke zur Hand nehmen. Ich will dieses aber gar nicht spöttisch gesagt, vielweniger damit zu verstehen gegeben haben, als ob etwa nicht viel schönes, absonderlich in Ansehung der Vollstimmigkeit, in mancher Motete von diesem ehmahls berühmten Mann, vom Orlando Lasso und andern, enthalten, auch kan ich nicht leugnen, daß noch bis itzo vieles daraus zu lernen sey. Man mag billig von ihnen sagen: sie haben Musicam gelernet und geistliche Lieder gedichtet: sie sind alle zu ihren Zeiten löblich gewesen, und bey ihrem Leben gerühmt, und haben ehrliche Nahmen hinter sich gelassen.

<75> §. 40. "Was die Ehre Gottes betrifft, hat Hammerschmidt darin mehr gethan, als tausend Operisten nicht gethan haben, noch hinfüro thun werden. Er ist auch, welches das höchste Stück seines unsterblichen Ruhms, derjenige, welcher die Music fast in allen Dorff=Kirchen (der Lausitz, des Thüringer, Sachsen=Landes und daherum) bis auf den heutigen Tag erhalten. Dieser Punct soll ihm billig, als ein unverwelckliches Lorber=Blat, in den Krantz seines immergrünenden Nachruhms eingeflochten [FN] werden."

§. 41. Allein die itzigen Zeiten lassen dergleichen Schreib=Arten, in ihrem ehmaligen Zusammenhange, nicht mehr zu. Es litte sowol der Wort=Verstand, d.i. der Sinn des Textes, als auch die rechte, natürliche Führung einer angenehmen Melodie, bey diesem Moteten=Styl gar zu sehr. Sonst läßt er viel buntes, verbrämtes, mit Fugen, Allabreven, Contrapuncten u.s.w. durchwircktes künstliches Wesen zu, dabey iedoch nur wenig Worte zum Grunde geleget werden: so daß er auch daher vermuthlich den Nahmen bekommen hat, nehmlich von dem welschen Motto, so ein Wort [FN: ...] bedeutet; nicht aber, wie Kircher mit schlechter Urtheils=Krafft lehret, vom bedecken, motecticus a tegendo, weil er mit lauter Künsten bedeckt ist. Andrer ungereimter Herleitungen zu geschweigen.

§. 42. Daß dem Moteten=Styl aber der canonische deswegen unterworffen seyn sollte, weil auch bisweilen Canones in den Moteten vorkommen, solches folget gar nicht: in dem sowol in Kammer= als Theatralischen Sachen ebenfalls dergleichen Kunst=Stücke, ja, mehr als in Kirchen=Stücken angebracht werden, ohne daß sich sonst das geringste Motetenmäßige dabey meldet.

§. 43. Obgedachter Scacchi [Kap. 10, §. 4.] sagt in dem angeführten Manuscript: es müsten die Sätze in diesem Styl mit solcher Geschicklichkeit verfertiget werden, daß sie weder der Schaubühne, noch der Kammer zu nahe kämen, sondern gleichsam die Mittel=Strasse hielten: ingleichen daß man bey den Italiänern seiner Zeiten die Moteten=Art in den Oratorien zu gebrauchen pflegte. Unsre heutigen Oratorien aber haben keine Spur davon. Die Verwunderung, den Schmertz und andere Gemüths Bewegungen hat der Moteten=Styl ausdrücken sollen; und er ist doch, wegen Abgangs einer edlen Einfalt und nothwendigen Deutlichkeit, gewißlich am allerunbequemsten dazu.

§. 44. Fugen sind gerne zu leiden und wol zu hören; aber ein gantzes Werck von lauter Fugen hat keinen Nachdruck, sondern ist eckelhafft: und aus solchen Fugen, oder Fugenmäßigen Sätzen bestunden die ehmaligen Moteten, ohne Instrumente, ohne General Baß; wiewol man in den jüngern Zeiten nicht nur den General=Baß zugelassen, sondern auch eben dasjenige, was die Stimmen singen, durch allerhand Instrumente verstärcket, und mit zu spielen für gut erachtet hat. Doch machen hiebey die Spielende keine Note mehr, anders, oder weniger, als die Sänger, welches ein wesentlicher Umstand der Moteten ist.

§. 45. Nach damahliger Eintheilung des gesammten Kirchen=Styls machten die Missen, Moteten und dergleichen Gesänge von 4, 5, 6 bis 8 Stimmen, ohne Orgel, die erste Gattung desselben aus; die zweite bestund in eben denselben Stücken mit der Orgel und verschiedenen abwechselnden Chören: die dritte lieferte geistliche Concerten, und die vierte eine damahls neue Art der lieben Moteten. Schlechter Unterschied!

§. 46. Es ist noch nicht gar lange, da man dieser letzten Art des Moteten=Styls, wo nehmlich allerhand Instrumente zu den Stimmen in gleichen Intervallen und Umständen mit arbeiten, fast den Vorzug vor allen andern in der Kirche hat beilegen wollen: ohne zu bedencken, oder auch zu wissen, wie sehr er selbst in gar alten [FN] Zeiten, da es viel ernsthaffter, kürtzer und ungeschminckter damit zuging, herunter gemacht, ja, für so verächtlich und entheiligend <76> gehalten worden, daß er sich kaum durffte blicken lassen. Wie denn um ihrentwillen die Music einmahl durch das tridentinische Concilium bald gar aus der Kirche wäre verbannet worden: wenn der ehrliche Pränestin nicht hurtig andre Saiten aufgezogen hätte [FN].

§. 47. Stephan Baluzius, der noch nicht 20 Jahr todt ist, und die Wercke des H. Agobardus, Ertz=Bischofs zu Lion, welcher Ao. 840 verstorben, mit gelehrten Anmerckungen heraus gegeben hat, worunter sich auch eines von dem göttlichen Psalmen=Singen, de divina Psalmodia befindet, belehret er uns, was dieser Prälat, bey einer hieher gehörigen, die Verwerffung der Music aus den Kirchen betreffenden Stelle, für Gattungen geistlicher Gesänge meine, nehmlich [FN: ...] solche geringe Gedichte und schlechte Verse, wie diejenigen sind, so man heutiges Tages Moteten nennet. Zu dessen Beweis führet Baluzius aus dem Wilh. Durand folgende Worte an: "Es würde [FN: ...] sehr wol gethan seyn, wenn die unandächtigen und unordentlichen Gesänge der Moteten und ihres gleichen sich in der Kirche nicht hören lassen dürfften."

§. 48. Itzund erstreckt sich die Bedeutung des Moteten=Styls, fast auf alle, vorzüglich aber auf lateinische Kirchen=Stücke in ungebundener Rede überhaupt: indem wol gantze lange Psalmen, von Ort zu Ende, nach dieser Art, mit beständigem Fugiren, und allerhand Instrumenten durchgearbeitet worden. Es kan auch dieser Styl gar wol, und muß billig in geistlichen Sachen, zum Theil, beibehalten werden; dafern man nur die nach demselben eingerichteten Sätze kurtz abfaßt, mit andern klüglich umwechselt, zu rechter Zeit anbringt und das Ding nicht allzubunt macht: denn wir mögten sonst einen neubelebten Pränestin nöthig haben.

zurück | weiter
nach oben