Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 12 von 20]

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Vom Theatralischen Styl besonders. [§. 70-101]

Allgemeines

<83> §. 70. Der theatralische Styl, ob er gleich unsern Vorfahren nur einfach vorgekommen, hat doch zum wenigsten eben so viele Gattungen unter sich, als der Kirchen=Styl, ja, wol mehr. Denn, zu geschweigen, was wir oben schon von der weitreichenden Herrschafft des Madrigal=Styls beigebracht <84> haben, läßt die Schaubühne noch fünf andre Schreib=Arten zu, bey denen die eigentliche Dramatische billig obenan stehet: deren Abzeichen ist, daß sie so singen lehre, als ob man nur rede; und wiederum so zu reden wisse, als ob man singe [FN: ...].

§. 71. Drama ist ein Griechisches Wort, und bedeutet auf Teutsch ein Gedicht, oder eine solche Vorstellung, darin gewisse Personen und Verrichtungen, obgleich erdichteter Weise, recht nach dem Leben aufgeführet werden. Daher denn die Welschen ihre Opern nur Drame oder Melodrame, auch wol Drame per musica nennen. Kurtz, es ist diejenige Schreib=Art, die in Sing=Spielen gebraucht wird, welche heutiges Tages mehr als zu bekannt, von den wenigsten aber recht begriffen wird.

§. 72. Denn eben dieser Styl erfordert mehr Geschicklichkeit im Setzen, als sich der meiste Hauffe einbildet, indem nicht nur sein Recitativ, sondern auch seine Arien, Chöre und übrigen Theile das natürlichste Wesen von der Welt, und gar nichts gezwungenes oder weitgesuchtes haben wollen: sie müssen allerdings von denjenigen Recitativen und Arien, die sich im gewöhnlichen Kammer=Madrigal=Styl, als in Cantaten, Abend= und Tafel=Musiken befinden, auch von den geistlichen Madrigalen und Dialogis dadurch unterschieden werden, daß alles im Dramatischen viel leichter, singbarer, freier, ungebundener, und durchgehends so beschaffen sey, als ob es ohne studiren oder auswendig=lernen, gleichsam aus dem Stegreiff hervorkäme: welches eine Anmerckung ist, die, nebst vielen andern hieher gehörigen, von etlichen Opernmachern, absonderlich Teutschen, in ihrer Noten=Arbeit gar zu geringe geschätzet, auch vieleicht von den meisten überall niemahls erkannt worden ist; da sie doch auf das vornehmste Wesen des Dramatischen Styls gehet, zur lebhafften Ausdrückung der Gernüths=Bewegungen unumgänglich nöthig ist, und den Stellungen oder Geberden der Schauspieler, die der Componist hiebey beständig vor Augen haben muß, ungemein zu Hülffe kömmt. Alles dieses hat man in dem übrigen madrigalischen Wesen gar nicht nöthig zu beobachten. So viel hievon.

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