Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 11 von 20]

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Stylus symphoniacus

<82> §. 63. Die vierte Schreib=Art, so zum Kirchen=Styl gehöret, beziehet sich auf die Instrumente, und wird stylus symphoniacus genannt. Weil nun die Instrumental=Music nichtes anders ist, als eine Ton=Sprache oder Klang=Rede, so muß sie ihre eigentliche Absicht allemahl auf eine gewisse Gemüths=Bewegung. richten, welche zu erregen, der Nachdruck in den Intervallen, die gescheute Abtheilung der Sätze, die gemessene Fortschreitung u. d. g. wol in Acht genommen werden müssen.

§. 64. Gleichwie nun ein iedes Instrument seine eigene Natur hat, so theilet sich dieser Styl fast in eben so viele Neben=Arten, als es Werckzeuge gibt. Auf Violinen, z.E. setzet man gantz anders, als auf Flöten; auf Lauten nicht so, wie auf Trompeten &. wozu schon eine grosse Einsicht, Handanlegung und Erfahrung gehöret. Und obgleich bey Instrumenten mehr Freiheit zu seyn scheinet, als bey Sing=Stimmen; so ist doch solche einem unwissenden Setzer mehr schäd= als nützlich, und gibt demjenigen, der seinen wilden Einfällen den Zügel läßt, nur desto grössern Anlaß zu allerhand Misgeburten und unförmlichem Geklängel, falls er nicht vorher durchs Singen gefaßt hat, worin das wolgestalte und förmliche Wesen der Melodie bestehet.

§. 65. Alles Spielen ist nur eine Nachahmung und Geleite des Singens, ja, ein Spieler, oder der für Instrumente was setzet, muß alles, was zu einer guten Melodie und Harmonie erfordert wird, viel fleißiger beobachten, als ein Sänger, oder der für Sing=Stimmen componirt: dieweil man bey dem Singen die deutlichsten Worte zum Beistande hat; woran es hergegen bey Instrumenten allemahl fehlet.

§. 66. In so weit nun der Instrument=Styl mit in die Kirche gehöret (ob er wol, gleich dem vorhergehenden Madrigal=Styl, sich der Schaubühne und Kammer auch reichlich mittheilet) in so weit erfordert er, bey den in geistlichen Stücken gebräuchlichen Sonaten, Sonatinen, Symphonien, Vor= Zwischen= und Nach=Spielen, seine besondere Festigkeit, und ein im Gange wolgegründetes, ernsthafftes Wesen; damit es nicht nach einer losbändigen Ouvertür schmecke: denn in göttlichen Materien muß diese Schreib=Art ehrbar, wolbedeckt und kräfftig; nicht schertzend, nackt und ohnmächtig seyn, maassen sie eben deswegen bis diesen Tag aus des Pabstes Capelle <83> verwiesen worden, woselbst keine andre, als die zur Verstärckung der Grund=Stimmen höchst=nöthige Orgel und Baß=Instrumente zu gebrauchen erlaubet sind.

§. 67. ledoch darff man deswegen nicht aller Lebhafftigkeit, ohne Unterschied, bey dem Gottes=Dienst entsagen, da zumahl die vorhabende Setz=Art offt von Natur mehr freudiges und muntres erfordert, als irgend eine andre, nachdem nehmlich die Vorwürffe und Umstände Anlaß dazu geben. Ja, der Instrument=Styl dienet vornehmlich dazu, daß er eben dasjenige über sich nehmen und heraus bringen soll, was den Sing=Stimmen nicht allemahl anständig ist, oder bequem fällt. Faul, schläfrig, lahm, ist nicht ernsthafft, prächtig oder erhaben und majestätisch. Freude verwirfft keinen Ernst; sonst müste alle Lust im Schertz bestehen. Ein aufgeräumtes Gemüth reimet sich am schönsten zur Andacht; wo diese nicht im Schlummer oder gar im Traum verrichtet werden soll. Nur muß die nöthige Bescheidenheit und Mäßigung bey dem freudigen Klange der Clarinen, Posaunen, Geigen, Flöten &. niemahls aus den Augen gesetzet werden, noch der bekannte Befehl den geringsten Abbruch leiden, da es heißt: Sey frölich; doch in Gottes Furcht.

§. 68. Wer den Canonischen Styl unter seinen Moteten und andern Sachen aus der Schule, als aus seinem wahren Element, mit in die Kirche bringen will, der gehe behutsam und selten damit um; brauche ihn mehr auf Instrumente in Sonaten oder sonst, als in Singe=Stimmen; suche, letztern Falls, solche Stellen und Worte dazu aus, wobey der Verstand sein Recht nicht verlieret, und verfahre, im Wiederschlage oder nachahmenden Satze, lieber mit der Quint oder Quart als mit dem Einklange und der Octave: alsdenn wird diese, sonst leicht ermüdende, periodische Leyer einer ungebundenen Fuge ähnlicher sehen, und mehr Beifall erwecken. Wiewol man auch die Canones auf gewisse Art verwechseln und versetzen kan, da sie eine gute Wirckung thun, wenn sie gleich den Einklang oder die Octave zum Wiederschlage brauchen: wovon an seinem Orte ein mehres. Sie gehören inzwischen, eben wie die beiden kurtz=vorher beschriebenen Style, sowol zur Kammer, als zur Schaubühne, ob sie wol auf dieser am wenigsten gelten, und doch in drey oder vierstimmigen Sätzen, absonderlich wenns lauter Discänte oder Tenöre sind, recht gut ausfallen: wovon wir vormahls in den Opern, und unter andern im Narcissus, artige Exempel gehabt haben.

§. 69. Bey Einführung der Kirchen=Gesänge in die geistlichen Stücke oder Oratorien, deren etliche, [FN: ...] in ihrer gewöhnlichen und iedermann bekannten Choral=Melodie, von selbsten sehr gute canonische Gänge an die Hand geben, sind solche keines weges aus der Acht zu lassen, sondern auf Orgeln oder auf dem Chor klüglich anzubringen. Wie man aber in diesem canonischen Styl seine, nützliche Übungen [FN: ...] anstellen könne, und welche Vortheile dabey zu gebrauchen sind, solches wird weiter unten umständlicher gezeiget werden. Und das wären denn die Erklärungen der fünf besondern Schreib= und Setz=Arten, die zum allgemeinen Kirchen=Styl gehören. Nun

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