Mattheson: Der vollkommene Capellmeister

Teil 1, Kap. 10 [Seite 19 von 20]

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Der choraische Stil

§. 110. Der dritte zur Kammer=Music gehörige Styl ist der gewöhnlichen und gebräuchlichen Tantz=Kunst eigen, von dem man gnugsame Vorschriften bey Ballen, Masqueraden, Engländischen, Frantzösischen, Polnischen und Teutschen Tantz=Ubungen haben kan. Diese choraische Schreib=Art theilet sich in so viele Gattungen, als es Arten von Täntzen in Zimmern, Sälen und grossen Gemächern gibt, woraus eine ziemliche Reihe erwächset, die einer reiffen Untersuchung mehr werth ist, als man meinet, wenn der grosse Gebrauch und sonderbare Nutz betrachtet wird.

§. 111. Die Polnische Gattung des choraischen Styls hat vor andern seit einiger Zeit so viel Beifall gefunden, daß man sich nicht gescheuet, die ernsthafftesten Worte und Sing=Gedichte mit Melodien nach Polnischer Weise (à la Polonoise) zu versehen. Es hat auch in der That diese Weise oft eine recht fremde und angenehme Wirckung, die iedoch niemand, ohne sattsame Kundschafft vom choraischen Wesen zu besitzen, zu Wege bringen kan.

§. 112. Sehen wir ferner einen Schottländischen Land=Tantz an, davon gantze Bücher voll gedruckt sind, so wird sich gewiß in der Schreib=Art desselben viel gefälliges und neues, wo nicht was seltsames hervorthun, das hin und wieder nicht nur zum Tantzen allein, sondern auch zu vielen andern Sachen, sowol auf dem Schau=Platz als in Gemächern, gut anzubringen und nachzuahmen ist; iedoch mit geziemender Behutsamkeit, sonderlich für Singe=Stimmen.

§. 113. Man betrachte endlich alle Frantzösische Tantz=Lieder und Melodien, so klein als sie auch seyn mögen, bis auf die Menuetten, die eben sowol, als die grössesten Ouvertüren, ihre eigne SchreibArt erfordern; man betrachte sie, sage ich, mit Aufmercksamkeit, welche feine Ordnung, Gleichförmigkeit und richtige Abschnitte darin zu finden sind, ich weiß gewiß, man wird erfahren, daß eben diese Tantz=Style (den hyporchematischen bey dem choraischen mit eingeschlossen) voller ungemeinen Reichthums sind, und allerhand schöne Erfindungen im Setzen an die Hand geben. Ich kenne grosse Componisten, die aus diesem choraischen Styl mehr, als aus allen andern Schreib=Arten gesammlet, und häuffige Einfälle daraus geschöpffet haben.

§. 114. Er führet seinen Nahmen vom Chor oder Reihen, wo ihrer viele zusammen tantzen, und die Glieder der choraischen Melodie sind zwar etwas schwächer, als der hyporchematischen, doch dabey von gleicher Einförmigkeit nach ihrer Art; die Rhythmi oder Klang=Füsse sind hurtiger, die Bewegung ist lustiger und die gehörige Kürtze hilfft mit zum Abzeichen.

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