Nicolai: Musik & Artzneygelahrtheit

§. 24. Die Musik kan die Einbildungskraft, so von grosser Liebe und andern Ursachen in Unordnung gerathen ist, in Ordnung bringen.

Ich habe die Liebe zu denienigen Affecten gezehlet, welche sehr geschickt sind die Gesundheit zu befördern [Siehe] §. 21, und das versteht sich von einer gemäßigten Liebe. Ist sie aber zu heftig und kan ihres Gegenstandes nicht theilhaftig werden, so entstehet eine grosse Traurigkeit und es ist nichts leichter, als daß der Mensch in eine Melancholie, Aberwitz und Raserey verfällt. Es geschiehet dieses bey den Personen von beyderley Geschlecht, vornemlich, wenn sie verliebt und der Wollust ergeben sind, und heißt dieser Affect bey Frauenspersonen nymphomania oder furor uterinus. Man hat vornemlich darauf <45> zu sehen, daß das Gemüth auf andere Gegenstände gelencket, und der Affect geschwächt und unterdruckt werde. Die Musik soll diese heilsame Wirckung bey einem vornehmen Frauenzimmer in Franckreich gethan haben, wie der Verfasser von der Historie der Musik meldet. Diese hat vor grosser Liebe ihre Vernunft verlohren, weil ihr Liebhaber ihr untreu geworden ist. Der Medicus, welcher sie in der Cur hatte, ließ neben ihrem Zimmer ein besondres Behältniß machen, wo sich die Musici hinstellen mußten, ohne daß sie von ihr konnten gesehen werden. Den Tag über spielten sie drey Concerten, und des Nachts solche Stücke, welche aus den besten Stellen der Opern des Herrn von Lully genommen und überdem so eingerichtet waren, daß sie ihren Schmertz lindernten und ihre Unruhe des Gemüths besänftigten. Dieses hatte kaum 6 Wochen gedauert, so kam selbiges Frauenzimmer wieder zu ihrem Verstande. Es ist gar kein Zweifel, daß der Gebrauch der Vernunft eine Zeitlang durch die grosse Traurigkeit, der sie nachgehangen hat, ist unterdruckt worden. Die Musik aber hat ihre viele angenehme und lebhafte Empfindungen verursachet, welche ihre Aufmercksamkeit dergestalt beschäftiget haben, daß die andern Vorstellungen mercklich dadurch sind verdunckelt worden. Und das hat um so viel eher geschehen können, da die Musik geschickt gewesen, einen angenehmen Affect zu erregen, wodurch nothwendig <46> das Mißvergnügen ist geschwächt und vermindert worden. Eben dieser Verfasser von der Historie der Musik erzehlet ferner, daß ein berühmter Organist an einer heftigen Kranckheit sehr darniedergelegen, daß er immerfort rasete oder doch phantasirte. Seine Freunde, welche ebenfals Musici waren, wurden deshalb genöthiget bey ihm zu wachen und geriethen von ohngefehr auf den Einfall, ein Concert mit Stimmen und Instrumenten zu machen, damit sie nicht der Schlaf überfallen möchte. Sie hatten dieses kaum angefangen, so wurde der Patient gantz ruhig und sagte zu einem von ihnen: Du fehlst hier. Sie verwunderten sich hierüber sehr und setzten ihre Musik vierzehn Tage fort und auf solche Weise kam der Krancke zu seinem Verstande und vorigen Gesundheit wieder. Vieleicht aber wäre er auch gesund geworden, wenn man gleich die Musik nicht gebrauchet hätte, und das will ich eben nicht in Abrede seyn. Dem ohnerachtet aber hat sie doch den Nutzen gehabt, daß sie ihm ein merckliches Vergnügen verursachet hat, das um so viel leichter hat entstehen und vermehrt werden können, indem ein Kunstverständiger von einer Sache, die er verstehet, weit stärcker gerühret, und leichter in einen Affect gesetzet wird als ein anderer. Da nun mit dem Vergnügen solche Bewegungen im Körper verknüpft sind, die zur Beförderung der Gesundheit abzielen [Siehe] §. 21, so muß auch der Nervensaft und das Geblüt <47> eine weit ordentlichere Bewegung erhalten haben, daher das Phantasiren und die übrigen Zufälle haben nachlassen müssen.

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