Nicolai: Musik & Artzneygelahrtheit

§. 30. Von der Musik der Alten.

<62> Man findet hin und wieder in den Schriftstellern, so von den Alterthümern und vornemlich von der Musik der Alten geschrieben haben, Nachricht von sehr wunderbaren Wirckungen, so dieselbe hervorgebracht haben soll. Ich glaube daher, daß es meinen Lesern nicht unangenehm seyn wird, wenn ich ihnen das erzehlen werde, was ich hiervon gelesen habe. Es ist dieses freylich eine Sache, davon man nicht alles, was man aufgezeichnet findet, schlechterdings glauben kan. Indessen halte ich doch davor, daß man eben so wenig Grund habe alles darvon zu verwerfen, wenn man nicht alle historische Glaubwürdigkeit bey Seite setzen wollte. Die Alten haben vornemlich vier Tonarten (modi musici) und dieselben bekamen ihren Nahmen von den Völckern, bey denen sie im Gebrauch waren. Die eine hieß die Dorische, die andere die Phrygische, die dritte die Lydische und die vierdte die Aeolische Tonart. Die erstere brauchten sie bey ernsthaften und wichtigen Sachen als bey der Religion, weil sie erbar und beschieden war, ernsthafte Gemüthsbewegungen erregte, und die Gemüther zur Tugend reitzte. Agamemnon und Ulysses, welche von der Wirckung dieser Musik sehr viel hielten, liessen daher alle beyde ihren <63> Gemahlinnen einen Dorischen Musicum zu Hause, als sie in den Troianischen Krieg giengen, welcher sie vermittelst seiner Musik von den Ausschweifungen in der Liebe abhalten und in einen tugendhaften Leben erhalten sollte. Wer weiß aber, ob er nicht eben das auch ohne seine Musik hätte bewerckstelligen können? Doch es stehet einem ieden frey, er mag davon glauben, was er will. Die Phrygische Tonart hat wie man lieset, die Gemüther dergestalt bewegen können, daß sie sehr leicht in eine Raserey und Wuth gerathen sind, und die Unterphrygische Tonart hat hingegen die Unruhe des Gemüths wieder gestillet. Ein alter Musicus Timotheus hat dieses an dem Alexander versuchet. Er spielte nemlich zu der Zeit, als derselbe bey der Tafel saß, auf seiner Flöte ein Stück nach der Phrygischen Tonart. Dadurch wurde er gantz ausser sich gesetzt, daß er ganz rasend von der Tafel lief und sich herumschlagen wollte. Timotheus, welcher die Wirckung seiner Musik wahrgenommen hatte, fieng alsobald eine andere Melodie nach der Unterphrygischen Tonart an, und diese brachte den Alexander wieder zu sich selbst. Nach der Phrygischen Weise hat man hernach andere musicalische Stücke verfertiget, die man auf Instrumenten spielte und vornemlich im Kriege brauchte die Soldaten dadurch behertzt zu machen. Der Lydischen Tonart bediente man sich nur bey Unglücks- und <64> Trauer-Fällen, und des Aeolischen bey Ergötzlichkeiten als bey Liebes-Sachen und beym Trunck. Diese vier Tonarten vermischte man hernach theils dergestalt untereinander, daß neue herauskamen, theils aber that man noch andere hinzu, daß ihre Anzahl sich auf 24 belief. Man erzehlt von denselben noch mehrere Wirckungen, als die ich berührt habe und die einen in Verwunderung setzen. Soll ich meine Meinung sagen, so scheinet mir dieses eben so unbegreiflich nicht zu seyn. Man kan ja die Tone dergestalt vermischen, daß sie sehr geschickt sind eine Leidenschaft zu erregen. Gesetzt demnach, daß die Alten darauf bey ihrer Musik gesehen, und selbige öfters wiederhohlet hätten, sollte das Gemüth nicht endlich eine Fertigkeit und Gewohnheit in Hervorbringung der Leidenschaft erlangen? Freylich aber würde dieses desto leichter haben geschehen können, wenn die Verknüpfung der Tone so eingerichtet gewesen wäre, daß sie die Hauptneigung oder solche Gemüthsbewegungen erreget hätte, die mit ihr übereinstimmen. Wer kan uns aber gewiß versichern, daß die Alten hiervon nichts sollten gewußt haben? Vieleicht haben sie auch ihre Musik nicht so gemein gemacht, sondern weit seltener gebraucht, daß sie daher einen weit stärckern Eindruck in die Gemüther gemacht hat. Ja, wer weiß endlich, ob ihr Text nicht weit vernehmlicher und <65> so eingerichtet gewesen, daß die Leidenschaften dadurch recht wohl sind ausgedruckt worden.

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