Quantz: Anweisung - Kap. 10

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<96> §. 19. Damit aber ein Anfänger auch von dem Unterschiede des Geschmackes in der Musik einen allgemeinen Begriff erlangen möge, ist nicht genug, daß er nur Stücke, so für die Flöte gesetzet sind, in Übung bringe: er muß sich vielmehr auch verschiedener Nationen und Provinzen ihre charakterisirten Stücke bekannt machen; und jedes davon in seiner Art <97> spielen lernen. Dieses wird ihm mit der Zeit mehr Vortheil schaffen, als er gleich im Anfange einzusehen vermögend ist. Die Verschiedenheit der charakterisirten Stücke findet sich bey der französischen und deutschen Musik mehr, als bey der italiänischen, und einigen andern. Die italiänische Musik ist weniger als alle andere, die französische aber fast gar zu viel eingeschränket: woraus vielleicht fließet, daß in der französischen Musik das Neue mit dem Alten öfters eine Aehnlichkeit zu haben scheinet. Doch ist die französische Art im Spielen nicht zu verachten: sondern einem Anfänger vielmehr anzuraten, ihre Propretät und Deutlichkeit, mit der italiänischen Dunkelheit im Spielen, welche mehrentheils durch den Bogenstrich, und den überflüßigen Zusatz von Manieren, worinne die italiänischen Instrumentisten zu viel, die Franzosen überhaupt zu wenig thun, verursachet wird, zu vermischen. Sein Geschmack wird dadurch allgemeiner werden. Der allgemeine gute Geschmack aber ist nicht bey einer einzelnen Nation, wie zwar jede sich desselben schmeichelt, anzutreffen: man muß ihn vielmehr durch die Vermischung, und durch eine vernünftige Wahl guter Gedanken, und guter Arten zu spielen, von verschiedenen Nationen zusammen tragen, und bilden. Jede Nation hat in ihrer musikalischen Denkart sowohl etwas angenehmes, und gefälliges, als auch etwas widerwärtiges. Wer nun das Beste zu wählen weiß; den wird das Gemeine, Niedrige und Schlechte nicht irre machen. [...]

[...]

<99> §. 23. Die Zeit, wie lange ein Anfänger täglich zu spielen nöthig hat, ist eigentlich nicht zu bestimmen. Einer begreift eine Sache leichter, als ein anderer. Es muß sich also hierinne ein jeder nach seiner Fähigkeit und nach seinem Naturelle richten. Doch ist zu glauben, daß man auch hierinne entweder zu viel, oder zu wenig thun könne. Wollte einer, um bald zu seinem Zwecke zu gelangen, den ganzen Tag spielen: so könnte es nicht nur seiner Gesundheit nachtheilig seyn; sondern er würde auch, vor der Zeit, sowohl die Nerven als die Sinne abnutzen. Wollte er es aber bey einer Stunde des Tages bewenden lassen: so möchte der Nutzen sehr spät erfolgen. Ich halte dafür, daß es weder zu viel, noch zu wenig sey, wenn <100> ein Anfänger zwo Stunden Vormittags, und eben so viele Nachmittags, zu seiner Uebung aussetzete: aber auch unter währender Uebung, immer ein wenig ausruhete. Wer es aber endlich dahin gebracht hat, daß er alle vorkommende Passagien, ohne Mühe, reinlich und deutlich heraus bringen kann: für den ist zu seinen besondern Uebungen eine Stunde des Tages zulänglich [...] Denn durch das überflüßige Spielen, zumal wenn man schon gewisse Jahre erreichet hat, entkräftet man den Leib ,man nutzet die Sinne ab; und verliehret die Lust und Begierde eine Sache mit rechtem Eifer auszuführen. [...]

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