Quantz: Anweisung - Kap. 18

[Seite 21 von 31]

zurück | weiter

§. 69. Die Franzosen legen den Italiänern, nicht ganz und gar ohne Grund, zur Last, daß sie in den Arien, ohne Unterschied, zu viel Passagien anbringen. Es ist zwar wahr, daß wenn es der Sinn der Worte erlaubet, und der Sänger die Fähigkeit besitzt, Passagien lebhaft, egal, rund, und deutlich heraus zu bringen, die Passagien eine ausnehmende Zierde im Singen sind. Es ist aber auch nicht zu läugnen, daß die Italiäner hierinne bisweilen zu weit gehen, und weder einen Unterschied der Worte, noch der Sänger machen, sondern nur mehrentheils der hergebrachten Gewohnheit , ohne Beurtheilung, nachgehen. Die Passagien mögen wohl Anfangs, einigen guten Sängern zu Gefallen, so häufig eingeführet worden seyn, um die Geschiklichkeit ihrer Kehle zu zeigen. Es ist <319> aber nachher ein Misbrauch daraus erwachsen; so daß man glaubet, eine Arie ohne Passagien sey nicht schön, oder ein Sänger singe nicht gut, oder tauge gar nichts, wenn er nicht auch gleich, wie ein Instrumentist, viele schwere Passagien zu machen wisse: ohne zu bedenken, ob der Text Passagien erlaube, oder nicht. Es ist absonderlich nichts ungereimter, als wenn in einer sogenannten Actionarie, worinn ein hoher Grad des Affects, er mag klagend oder wütend seyn, liegt, und die mehr sprechend, als singend seyn sollte, viele Passagien vorkommen. Diese unterbrechen und vernichten an diesem Orte den ganzen Ausdruck der Sache: zu geschweigen, daß dergleichen Arien bey vielen Sängern unbrauchbar werden. Sänger, welche die Fähigkeit haben, Passagien, mit völliger Stärke und ohne Fehler der Stimme, rund und deutlich heraus zu bringen, sind rar: da hingegen viele Sänger, ohne diese Geschiklichkeit und Naturgabe zu besitzen, dennocht gut seyn können. Ehe man zu einer Leichtigkeit in den Passagien gelanget, muß ein großer Fleiß und besondere Uebung vorher gehen. Diejenigen Sänger aber, welchen, ungeachtet alles angewendeten Fleißes, die Natur doch diese Leichtigkeit versaget, dürften nur, anstatt daß sie sich, um die Mode mit zu machen, mit Passagien martern, ihre Zeit auf etwas bessers wenden, nämlich schmackhaft und ausdrückend zu singen, welches sonst öfters dabey versäumet wird. Aus der übertriebenen Lust Passagien zu singen, entsteht auch öfters noch das Uebel, daß um einiger Sänger willen, denen zuwider zu seyn die Klugheit nicht allemal erlaubet, dem Componisten, und dem Dichter, die Freyheit ordentlich zu denken benommen wird. Doch es scheint, daß itzo, der an den meisten Orten in Welschland eingerissene Mangel fertiger Sänger, den Passagien öfters fast gar zu enge Gränzen setzen werde.

zurück | weiter